Kommentar Obamas Gesundheitsreform: Triumph am Heiligen Abend
Die seit Jahren überfällige Gesundheitsreform in den USA ist in greifbarer Nähe. Der Abtreibungskompromiss ist nur eine symbolische Niederlage, sie spielt ökonomisch keine Rolle.
D ie Gesundheitsreform in den Vereinigten Staaten rückt näher. Nach dem Kongress wird am Heiligen Abend auch der Senat einem Vorschlag der Demokraten zustimmen. Damit gibt es jetzt zwei demokratische Vorschläge, die in einer Art Vermittlungsverfahren an einem Wochenende im Januar zusammengeführt werden. Ende Januar wird Obama das Ergebnis mitteilen können: Das ist ein echter Durchbruch.
Manchen geht die Reform nicht weit genug, andere finden, es handele sich um Murks. Doch diese Vorwürfe sind falsch. Keine Reform wäre eine Katastrophe gewesen. Obama wäre als Innenpolitiker erledigt gewesen, wenn er sein wichtigstes Projekt nicht durchbekommen hätte. Das wussten die Republikaner, und so war klar, dass es von ihnen nicht eine einzige Stimme im Kongress oder Senat geben würde - egal was Obama vorschlägt. Dass Obama fast alle Stimmen der Demokraten in beiden Häusern gewinnen konnte, grenzt bei dem Spektrum der Leute und den fehlenden Druckmitteln des Präsidenten auf diese Dauerwahlkämpfer an ein Wunder.
Ohne Gesundheitsreform wäre auch jede andere Gesundheitsreform erledigt gewesen, weil kein demokratischer Präsident dies nach dem Scheitern von Clinton und Obama in den nächsten Jahrzehnten erneut versucht hätte. Dies wussten die Lobbyisten der Versicherungskonzerne, und sie boten daher alles auf, was sie hatten, demokratische Abgeordnete zu kaufen oder mit der Unterstützung ihrer Gegenkandidaten zu drohen.
Karl Lauterbach ist gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Keiner der Experten, die in den Neunzigerjahren zunächst Bill Clinton und jetzt Obama beraten haben, hätte vor Monaten gedacht, dass Obama es schaffen kann. Sein wichtigster strategischer Schachzug war, dass Obama selbst gar keinen Vorschlag gemacht hat, sondern nur hinter den Kulissen auf die Vorschläge von Kongress und Senat eingewirkt hat. So konnte er morgens am Telefon Vorschläge machen, die er als Beobachter abends selbst lobte - einschließlich der eitlen Politiker, denen sie zugeschrieben wurden. Ein großer Teil der Reform wurde von Profis aus Obamas unmittelbarem Umfeld geschrieben, die wie in einem Orchester die Rollen verteilten.
Auch die Substanz der Reform kann sich sehen lassen, denn die meisten Amerikaner lehnen ein einheitliches System nach europäischem Vorbild ab. Das Maximum, was zu erreichen ist, ist die Wahlmöglichkeit einer staatlichen Versorgung. Diese hat der Senat jetzt abgelehnt, sie ist aber noch nicht tot, sie kann im Januar noch durch die Vermittlung kommen. Wenn sie nicht kommt, ist das kein großer Verlust, sie hätte die schwerkranken Amerikaner angezogen und wäre daher sehr teuer gewesen, hätte sich quasi selbst diskreditiert.
Entscheidend sind nur zwei Dinge: Erstens gibt es eine Versicherungspflicht, und wer sie als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer nicht bedient, muss eine Strafe zahlen, mit der die Versorgung der anderen Bürger bezahlt wird. Damit wird der stetige Zuwachs der Nichtversicherten gestoppt - und es werden mehr als 30 Millionen zusätzlich versichert.
Zweitens müssen die Versicherungen demnächst auch die Alten und die Kranken nehmen und dürfen diese nicht durch horrende Risikozuschläge ausgrenzen. Zusätzlich bleiben das staatliche Medicare System für über 65-Jährige und das Medicaid-System für Arme bestehen. Die Kürzungen bei Medicare gehen im Wesentlichen auf ohnehin notwendige Verbesserungen der Wirtschaftlichkeit zurück, da den Krankenhäusern durch dieses System bislang zu viel bezahlt wurde. Auch wird die Allgemeinmedizin zulasten der Spezialisten gestärkt, ein amerikanisches Ungleichgewicht zulasten von Qualität und Wirtschaftlichkeit.
Dass für Abtreibungen jetzt eine Zusatzversicherung bezahlt werden muss, ist eine symbolische Niederlage, spielt aber ökonomisch keine Rolle: Es ist der Preis, den Obama zahlen muss und der ihn die Wiederwahl kosten kann. Viele amerikanische Frauen werden ihm dies nie verzeihen und werden ihn nicht mehr wählen. Aber ohne dieses Zugeständnis hätten einige Demokraten nicht zugestimmt.
Move Org und andere demokratische Kampagnen werden diese Abgeordneten jetzt angehen. Aber wenn die Reform im Januar kommt, ist sie ein großer politischer Triumph.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!