Kommentar Kölner Einsturz: Deutsche Schizophrenie
Aus dem Einsturz von Köln sollte man die Lehre ziehen, dass Narben zur Geschichte dazugehören. Das gilt für das abrissfreudige Köln wie für das neurotisch bewahrende Weimar.
Ralph Bollmann leitet das Parlamentsbüro der Taz.
Köln ist nicht Weimar, ganz und gar nicht. Im Umgang mit ihrem Erbe gingen die beiden Städte, die zuletzt durch Katastrophen einen Teil ihres historischen Gedächtnisses verloren, seit je getrennte Wege. Hier die rheinische Metropole, die sich in den zwei Jahrtausenden ihrer Geschichte stets neu erfand und mit Ausnahme der Kirchen die alte Bausubstanz gern rücksichtslos beseitigte - und zwar unabhängig von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Dort die vergleichsweise junge Klassikerstadt, die nach Goethes Tod vor knapp zwei Jahrhunderten den Status quo zu konservieren suchte und jede entstandene Lücke möglichst mit Replikaten füllte.
Auf den ersten Blick erscheinen beide Positionen grundverschieden. In Wahrheit handelt es sich aber um zwei Erscheinungsformen ein- und derselben Krankheit - jener Schizophrenie, der die Deutschen im Umgang mit der kulturgeschichtlichen Hinterlassenschaft unterliegen. Am deutlichsten zeigt sich das im Bereich von Denkmalschutz und Städtebau. In Westdeutschland fiel dem Wiederaufbau fast so viel historische Bausubstanz zum Opfer wie dem Krieg, in manchen ostdeutschen Altstädten werden heute ganze Straßenzüge mangels Investoren einfach niedergewalzt. Andere Ensembles wiederum sind übertrieben herausgeputzt, von zweifelhaften Rekonstruktionen zu schweigen. Abgerissen oder kaputtsaniert, Puppenstube oder aseptische Moderne: Das sind die Alternativen. Historische Patina, städtebauliche Narben, gewachsene Geschichte sind unerwünscht.
So schlimm die Verluste durch den Brand der Weimarer Bibliothek und durch den Einsturz des Kölner Archivs auch sind: Es wäre die falsche Lehre, dass nachher alles so werden muss wie zuvor. Man muss alles tun, um solche Katastrophen zu verhindern. Wenn sie aber eingetreten sind, hilft Lamentieren auch nicht mehr. Sondern nur das klare Bewusstsein, dass die Lücken in den Beständen, die Brandflecken an den Buchdeckeln, die Schäden an den Urkunden zur Geschichte selbst gehören.
RALPH BOLLMANN
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