Kommentar Geißlers Schlichterspruch: Vom Bürgerprotest zum Bürgerhaushalt
Absurd, dass die Idee des Bürgerhaushalts in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde. Das zu ändern kann der Erfolg der Schlichtung von Stuttgart sein.
N ein, wirklich Neues hat Schlichter Heiner Geißler in Stuttgart nicht verkündet: Der umstrittene Tiefbahnhof soll gebaut, einige Details sollen verbessert werden und die frei werdenden Flächen in der Stuttgarter Innenstadt müssen der Immobilienspekulation entzogen werden. Das nennt Geißler "Stuttgart 21 plus" - einen verbesserten Traumbahnhof. Der Nebeneffekt: Durch die Ver(schlimm)besserungen am Tiefbahnhof wird die von den Kritikern bemängelte Kostenexplosion noch weiter zunehmen. Kurz: Es ist abzusehen, dass das Thema Stuttgart 21 bis zur Landtagswahl im März 2011 weiter für Zoff sorgen wird. Gerade weil auch nicht zu erwarten war, dass die Schlichtungsrunde in Stuttgart zu mehr Erfolgen führt, als Geißler sie nun präsentieren konnte, ist zu fragen, was sich aus den letzten Wochen der politischen Auseinandersetzung lernen lässt. Und das ist beachtlich.
Denn in den Gesprächen am runden Tisch wurde klar: Die Bürger in Stuttgart waren nicht nur zu plumpen Dagegen-Protesten bereit, sondern beschäftigten sich auch umfassend mit Sachfragen. Sie stellten die richtigen Fragen und legten echte Alternativen vor. Das zeigt: Es ist Zeit für eine neue Politik. Es ist Zeit für die Einführung von Bürgerhaushalten.
Mit dem Instrument wurde im brasilianischen Porto Alegre, einer Stadt von der doppelten Größe Stuttgarts, in den letzten 20 Jahren Unglaubliches erreicht: Durch Mitsprache der Bevölkerung in Haushaltsfragen konnte dort binnen kurzer Zeit eine effektive Wasserversorgung, bessere Bildung und eine verstärkte Integration vormals ausgeschlossener Menschen erreicht werden. In einem nachhaltigen Prozess bestimmen Bürger dort ganz konkret mit, wie öffentliche Gelder verteilt werden sollen, und zwar bevor sie ausgegeben werden.
Martin Kaul ist als taz-Redakteur zuständig für das Thema Soziale Bewegungen.
Der Effekt: Die Bürger fühlen sich ernst genommen. Das Geld fließt dahin, wo es gebraucht wird. Und auch für politisch missliebige Entscheidungen steigt die Akzeptanz. Es ist absurd, dass diese nachhaltige Idee in Deutschland bislang kaum zur Kenntnis genommen wird. Das zu ändern kann der Erfolg der Schlichtungsrunde von Stuttgart sein.
Denn aus dem Stuttgarter Konflikt zu lernen heißt: Nicht nur bei der weiteren Gestaltung der Stuttgarter Innenstadt, sondern auch in anderen Haushaltsfragen ihrer Kommunen müssen Bürger künftig aktiver, umfassender und frühzeitiger eingebunden werden. Wer sich dieser Idee nun annimmt, kann ein echtes Innovationsprodukt entwickeln: die Demokratie-Erneuerung in unseren Kommunen.
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