Kolumne: Ein langer roter Schatten
Das Wetter machts möglich: Zeit für 12 Stunden Peter Weiss "Ästhetik des Widerstands"
Aus allen Himmelsrichtungen dröhnen die Mähdrescher, um die Ernte, die nach dem heißen Frühjahr nur auf halbhohem Halm steht, einzuholen vor dem nächsten Regen. Der Spaziergang führt vorbei an der Kirche, auf deren Turm - so will es die Fama des Dorfes - vor 64 Jahren Max Schmeling als Flakbeobachter saß, vorbei an dem Steinhaufen, unter dem "une pierre du crématoire de Bergen-Belsen" (ein Stein des Krematoriums in Bergen-Belsen) aufbewahrt ist. So steht es auf dem abgeplatzten Emailleschild. Dann kommen die schweren Tropfen. Es ist saukalt, an Schwimmen nicht zu denken. Falsches Wetter, falsche Gegend.
Also sitzen wir vor dem Kamin, und die Stimmen nehmen uns auf eine Reise von Berlin über Böhmen, Paris, Barcelona, Stockholm und wieder zurück nach Berlin. Wir lauschen der zwölfstündigen Aufnahme von Peter Weiss "Ästhetik des Widerstands". Lassen uns noch einmal verwickeln in den Aufstand der Titanen gegen die Götter auf dem Pergamon-Fries, hören den Schrei des Pferdes von Guernica; halten die CD an und rekapitulieren den rasenden Wechsel der Komintern-Linien wie in den Seminaren der frühen Siebziger; werden erinnert an das, was wir vergessen hatten: die KZs für Spanienkämpfer im protofaschistischen Frankreich; sehen mit den jungen Augen des Emigranten die "Freiheit, die das Volk anführt" und mit seiner materialistischen Ikonographie das Zaudern des Kleinbürgers Delacroix; sind Zeugen der tiefsten Erniedrigung von Menschen und Ideen in den Moskauer Prozessen und der schäbigen Immigrationspolitik der bürgerlichen Demokratien.
Und weil es am nächsten Tag immer noch regnet, stehen wir daneben, als Brecht aus Schweden flieht und das alte Europa in seine Bücherkisten verschwindet: der Prozess des Sokrates, der Niedergang Roms in der Dekadenz seiner Politiker und hedonistischen Massen, die christliche Selbstzerfleischung des Individuums, die seit Augustinus so viel Papier gefüllt hat, die sozialistischen Hoffnungen Étienne Cabets und Oscar Wildes, Goethes und Spinozas Pantheismus, die Reproduktion der "Dullen Griet" von Breughel - diese Geburt des Surrealismus aus Krieg und Blut und Gemeinheit.
Nach zwölf Stunden blicken wir in die Gesichter der Patrioten der "Roten Kappelle", die in den Backsteinbau in Plötzensee geführt werden, und hören am Ende die Stimme eines jungen Mannes verzweifeln, weil all diese Opfer an Leben, all diese Kunstwerke folgenlos gewesen sein könnten, sich schrill überschlagen, weil sie festhalten will an der Hoffnung, der Geist der Befreiung sei untötbar.
Diese zwölf CDs sind eine kulturelle Großtat. Der Bayerische Rundfunk, der WDR und der Hörverlag erinnern an die glorreichen Jahrzehnte, als in den Dritten Programmen die Verfemten, die Riskanten zur Primetime den Faden der Aufklärung wieder aufnahmen, ein paar Generationen mit den Rationen bürgerlicher Kultur und akademischer Verbindlichkeit versorgten, die auf der Villa Hügel, in Winifreds Bayreuth und den sich gleichschaltenden Akademien zuschanden wurden. Dieses Mammutunternehmen for the happy few - aus "Zwangsgebühren" bezahlt, wie diejenigen so gern sagen, die von ihren Zwangspreisen das Werbegeld abzweigen, mit dem die Unterschichtenprogramme zusammengeschustert werden - wirft einen langen roten Schatten in die leeren Debatten über Leitkultur und die Instrumentalisierung "europäischer Werte" zur Abwehr von Migranten und Universalismus.
Die "Ästhetik des Widerstands" behauptet nichts weniger als dieses: dass alle Kunstwerke, die es wert sind, überliefert zu werden, von der - werdenden, zerstörten, prekären - Gemeinschaft von Bürgern und Weltbewohnern künden, von den Wonnen des Friedens und seiner Gefährdung, von der Schönheit der Welt und ihren Verderbern. Aus ihren Bruchstücken leuchtet der religiöse Glaube, dass die Wahrheit der Kunstwerke, die Erkenntnisse in den Büchern, die politischen Kämpfer in unseren Seelen weiterleben. Wirklich sind, durch alle Niederlagen hindurch.
Weiss' pathetisches Epos sei, so lesen wir im Ankündigungstext, eine "Erinnerung an die letzte große Erzählung". Es treibt die Tränen in die Augen. Es ist ein Requiem auf eine - in ihrer Größe wie in ihrem Grauen - abgeschlossene Gestalt der Geschichte. Die Toten sind tot. Der rote Faden ist zerrissen, zerfasert in philologischen Ghettos, ironischen Reprisen, Event-Zurichtungen und politischem Missbrauch. "Ist uns damit jede Möglichkeit einer umfassenden Sinnstiftung abhanden gekommen?", fragt der Waschzettel.
Vielleicht ist die Frage falsch. Sicher, der Nervenstrang der kollektiven Verbindlichkeit ist abgeklemmt, der Menschen aneinander und an dieses Erbe band. Und selbst die Trauer darüber, an der Peter Weiss zehn Jahre lang schrieb, die vorironische Heiligkeit der revolutionären Wertewelt, die Vergegenwärtigung ihrer Märtyrer, die Erinnerung an eine politische Bewegung, in die Menschen ihr ganzes Leben stellten, berührt uns in ihren Einzelgestalten und Details. Aber als Ganze ist sie entrückt wie ein Monument aus uralten Zeiten, ebenso lockend wie furchtbar.
Irgendwann kommt dann doch etwas Sonne. In den Bergen wandern wir auf den Spuren des Kommunarden Gustave Courbet, der mehr malte, als ihm lieb war, weil er die Rekonstruktion der Vendôme-Säule bezahlen musste, deren Sturz er angestiftet hatte. Überall in diesem Land stößt man auf Steine aus geschleiften Klöstern und Feudalschlössern, die zum Bau bürgerlicher Häuser und nützlicher Mauern verwendet, die zum Rohstoff wurden auf den Baustellen einer neuen Epoche.
Ebenso verhält es sich mit dem historischen "Erbe": der Schock der Goyaschen Bilder, die Seelentiefe von Mahlers Liedern, die vernünftigen Gefühle Brechts; die Achtung, die Bewunderung, das Mitleid angesichts der hochherzigen und außerordentlichen Menschen und ihrer gescheiterten Versuche - all das ist kein Traditionsmaterial für Leitkulturen, sondern Rohstoff für die Seelen einzelner Menschen. "Umfassende Sinnstiftungen" schweben so weit oben wie die Sterne, und "Geschichte" entsteht nicht aus "großen Erzählungen", sondern aus den Handlungen vieler einzelner, die auf den Baustellen ihrer Gegenwart hier und da einen Stein aus der Vergangenheit verwenden, alte Bronzen umschmelzen zu neuen Werkzeugen.
Die Ästhetik des Widerstands, das ist nicht nur die Kunst, heute in den Graffiti der Vorstädte die Pigmente Delacroix zu entdecken und in "Live-Earth" die Trompeten der Eroica. Es ist ebenso die konstruktive Phantasie, in den hunderttausend disparaten Kleinstanstrengungen kleinster Gruppen den Rohstoff zu sehen für das, was die Broschüre in der Buchhandlung "L'insurrection qui vient" (der bevorstehende Aufstand) nennt, und über deren Gestalt wir nur so viel wissen, wie wir an ihr teilnehmen. Das Büchlein liegt auf dem Sims - für die nächsten Regentage, die, so sagt der Wetterbericht, mit Sicherheit kommen.
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