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KolumnePommes frites mal anders

Warum eine Hartz-IV-Empfängerin nur 150 Euro im Monat zum Leben hat - Bine hat es mir erklärt.

Es war in den 60er-Jahren, zu Zeiten der Vollbeschäftigung in Deutschland, als ich das erste Mal Pommes frites probieren durfte. Ein Sommerabend in den Ferien auf Spiekeroog. Wir waren in unseren marineblauen Popelineanoraks am Strand entlangmarschiert und kamen zurück in den Ort, jemand hatte erzählt, dass es in der Milchbar neuerdings "Pommfritt" gab.

Bild: taz

Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.

Köstliche, warme, salzige Kartoffelstäbchen sollten das sein, in spitze Tüten aus Butterbrotpapier geschaufelt und von einer Tresenkraft durch das Verkaufsfenster gereicht. "Na gut, ich spendier dir eine Tüte", hatte Großtante Zilly schließlich geseufzt. Damals hieß es ja nicht, "ich kauf dir dies und das", sondern "ich spendier dir was", typisch für die großelterliche Kriegsgeneration, für die immer noch alles Luxus war, was jenseits von Brot und Pellkartoffeln lag. Ich musste ein bisschen anstehen, was die Erwartung noch steigerte. Schließlich hielt ich die ersehnte Tüte in der Hand und ließ die Kartoffelstäbchen auf der Zunge zergehen. Salzig, buttrig, knusprig. Das reine Glück.

Ab und an spreche ich auch mit Jugendfreundin Bine über unsere Kindheit in den 60er-Jahren. Wir sehen uns ja nicht so oft. Die Sache mit Bine ist eine komplizierte Geschichte. Wer will schon sagen, ob es nun der Spätkapitalismus, die Depressionen oder einfach nur Pech war, dass Bine heute von Hartz IV lebt? In Zeiten, wenn das Arbeitsamt eben nicht mehr eine ABM-Stelle nach der anderen ausspuckt, um einer langzeiterwerbslosen Soziologin über 50 eine Beschäftigung zu bieten? Hätte Bine vielleicht doch damals, vor 20 Jahren, den stressigen Job in der Behindertenhilfe annehmen sollen, anstatt sich weiter auf Fördermaßnahmen vom Arbeitsamt zu verlassen und nebenbei in einer Band zu singen?

Die ABM-Stellen gibt es nicht mehr. Auch die Band nicht. Aber Bine gibt es noch. Immer wieder bewirbt sie sich auf kleinere Nebenjobs, in der Altenbetreuung, auch zum Putzen. Aber da haben sich dann immer schon andere gemeldet, mit einschlägiger Ausbildung oder Berufserfahrung.

Manchmal wandern wir zusammen, ein, zwei Stunden am Griebnitzsee entlang oder auch nur im Grunewald. Bine will nicht immer von mir zum Essen eingeladen werden und auch nicht ins Kino, denn Fernsehen gucke sie zu Hause eh schon zu viel, meint sie. Doch beim Wandern sind alle gleich. "Wenigstens die Natur ist kostenlos" - das hat Großante Zilly immer behauptet.

Das Jobcenter zahlt Bine Kaltmiete und Heizung. 347 Euro hat sie außerdem als Hartz-IV-Regelsatz, monatlich. "Von den 347 Euro gehen schon mal 20 Euro ab, die ich monatlich an einer Pauschale für Schönheitsreparaturen zusätzlich zur Miete zahlen muss. Und eine Warmwasserpauschale von 25 Euro, die musst du ebenfalls aus dem Regelsatz bestreiten", rechnet mir Bine vor. "15 Euro kosten Telefon und Strom, 30 Euro zieht mir die Bank ab an Zinsen für den Dispokredit, der über die Zeit aufgelaufen ist. 34 Euro kostet das Sozialticket für die BVG. 20 Euro werden für das Katzenfutter fällig. Ja, und 50 Euro zahle ich für die Selbstgedrehten, ist teuer, aber das Rauchen auch noch aufgeben schaffe ich einfach nicht."

Ich rechne nach. Ich wollte es doch genau wissen. Am Ende bleiben noch 153 Euro vom Regelsatz übrig zum Leben. Macht fünf Euro am Tag für Bine. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, vielleicht doch etwas zu sagen über das Rauchen. Oder über die Katze. Aber schon der Gedanke ist peinlich. Es bleibt bei den 153 Euro, es wird einfach nicht mehr.

"Ab der dritten Woche im Monat ist Ebbe", sagt Bine. "Ich versuche ja schon alles, aber es geht einfach nicht." Wir haben den Schlachtensee umrundet. Am S-Bahnhof Schlachtensee gibt es besonders leckere Pommes frites. Wirklich kross gebacken und das Fett duftet wie Butterschmalz. "Pommes frites", sagt Bine auf meinen Vorschlag, "die hatte ich gerade. Von Aldi im Sonderangebot. Der 750-Gramm-Beutel kostet 59 Cent." Es habe zwei Tage für das Mittagessen gereicht. "Wir hatten nichts früher", hat Großtante Zilly immer gemahnt, "ihr seid so verwöhnt." Vielleicht ist ja wieder Krieg. Nur ohne Tote.

Fragen zu 153 Euro? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried über ÖKOSEX

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