■ Kolumne: Von HH nach B
www.zeittotschläger.de präsentiert: Abenteuer Realität. Ein unterdurchschnittlicher Samstagabend und jede Menge ungenutzte Optionen. Fünf kleinkünstlerische Aktiviposten in Prenzlauer Kellerbars, zwei sentimental-gitarrenmusikalische Kreuzberger Wohnungssausen, House mit Polit-Anbindung, fürs Authentische der örtliche Tekkno-Tanith, natürlich im Tresor. Wissend, dass das, was sie suchen, dort nicht zu finden ist, besorgt, falsche Entscheidungen nicht per Mausklick beenden zu können, bestrebt es die Dreißigjährigen zu den weichen Konsonanten, zu „Drings in Gneipen“. Um eins sind sie betrunken – nicht über alle Maße breit, doch so sehr, dass sich Gespräche direkt und ohne Umwege in zumindest emphatische Artikulationsfreude bohren.
Er ist ein Fremder, metropolitanes Freiwild, ein Tourist in der Hauptstadt der neuen Mitte. Sie hat schon mal in Hamburg gewohnt, ein halbes Jahr St.Georg und es hat ihr nicht gefallen. Kam im November, kannte kaum jemand, stand allein in nasskalten Straßen mit grauem Gewicht auf den Schultern. Bemüht, die anstehende Klischeemühle zu vermeiden, reagiert er ausgleichend und voller Verständnis. Ihm, der seit zehn Jahren hier lebt, war Hamburg schließlich auch nicht immer Eden, zumal, wenn er mal wieder eine Wohnung sucht und die Stadt jedesmal ein wenig kleiner wird.
„Warum also“, sinniert er. während Hände und Mund die Konversation aufrecht erhalten, „folge ich nicht dem Treck der Macht und Kreativität?“ Wahrscheinlich war es die knorrige norddeutsche Stoik, die gerade durch sein siebenfach beschleunigtes Leben im Netz den beständigen Wunsch nach Dynamik nicht in Körperlichkeit analogisierbar macht und durch Skepsis und Müdigkeit hinweg Halt sucht unten im Wellental der surfing Generation.
Irgendwo auf den 300 Kilometern Steppe zwischen HH und B liegt Z. In Z hat sich seit dem Krieg nichts verändert. Wenn dort jemand stirbt, dann, weil ihn ein besoffener oder eifersüchtiger Bauer mit der Heugabel ersticht, aber nicht, weil sein mentales Gerüst von unverarbeitbaren Wahrnehmungen gesprengt wird. Hier gibt es immer noch mehr Kassetten als MP3s und die Verabredung zum Bier erfolgt nicht über e-mail. Das macht die Welt zwar nicht besser aber stofflicher und das Resultat der eigenen Handlungen nachvollziehbar. So denkt er, als er aufbricht, weil und während Ally McBeal zum einzigen Gesprächsthema generiert. Seinen Namen hat sie wahrscheinlich längst gelöscht, er hat ihren gar nicht erst in den Arbeitsspeicher gelegt. Übersetzt man HH und B in Zahlen, so ergibt sich übrigens 88 plus 2 oder 90, Quersumme 9, der Schlüssel zur Schöpfung. Oder zur Klospülung.
Holger in't Veld
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen