Kolumne Zeitschleife: Etymologie, schön wie nie
Entscheiden Sie selbst: Möchten Sie lieber versaubeutelt oder verballhornt werden?
Josef Winkler (35) lebt und arbeitet, was sein Nervenkostüm und Zeitbudget nicht unerheblich in Anspruch nimmt, in München und Palling. Hobbies: Zeichnen, Tiere, Musik, Nichtschwimmen.
Cem Özdemir. Freuen Sie sich auch so? Dass ich das noch erleben darf! Der erste Bundesvorsitzende einer deutschen Partei mit so richtig phatten Koteletten! Ich finds weit vorn. Aber natürlich ist die Frage jetzt: Kann ers? Man soll ja nicht in kopflose Euphorie ausbrechen und sich an überzogenen Erwartungen besaufen, nur weil nun erstmals ein Mann mit so richtig phatten Koteletten einer deutschen Partei vorsitzt. Auch ein Mann mit so richtig phatten Koteletten wird sich im politischen Tagesgeschäft mit Situationen konfrontiert sehen. Und den entsprechenden Sachzwängen. Vor allem bei den Grünen ist der Nimbus selbst so richtig phatter Koteletten mithin schnell entzaubert. Und dann schmirgelt einem der Alltag gnadenlos die Backe blank. Bildlich gesprochen.
Darf ich Ihnen eine Information schenken, die ich soeben einer Online-Enzyklopädie entnahm? Wissen Sie, warum die Haartracht Koteletten auf Englisch nicht etwa cutlets heißt oder wienerschnitzel, sondern sideburns? Sicher: Man würde tippen, burns sei wohl eben ein in der anglosächsischen Etymologie herumkreuchendes Wort für Schopf, Büschel o.ä., und diese burns sind da an den Seiten dran, ergo: sideburns. Es ist aber ganz anders. Der Ausdruck sideburns geht zurück auf Ambrose Everett Burnside (1824-1881), General der Nordstaaten-Armee im amerikanischen Bürgerkrieg und Kultivator eines exzentrischen Backenbartes, der den Volksmund dazu verleitete, Burnsides Namen, verballhornt zu sideburns, zum Sammelbegriff für Backenbärte zu machen. Isso. Ich schwör. Jetzt werden Sie fragen: Wenn DAS stimmt, wovon leitet sich dann bitte das Wort "verballhornen" ab? Nun, es wird wohl, sagen wir: im Mittelalter einmal ein listger Spötter einem arglosen Junker eyn horn fir eynen bal fürgemahet haben, und Walther von der Vogelweide hat ein Lied geschrieben über dies kuriose Verdrehungsspiel. Daher: verballhornen.
Es ist wieder ganz anders. "Verballhornen" geht zurück auf den Buchdrucker Johann Balhorn, der 1586 eine Neuausgabe des "Lübecker Stadtrechts" verlegte mit so vielen Fehlern darin, dass "balhornen" resp. "verballhornen" in der ursprünglichen Wortbedeutung ein Synonym für "verschlimmbessern" wurde. "Man geht inzwischen davon aus, dass die sinnentstellenden Änderungen nicht von Balhorn selbst, sondern von zwei Juristen des Stadtrates hineinredigiert wurden", weiß die Enzyklopädie, aber davon kann sich der Balhorn auch nichts mehr kaufen. Ich scheue mich nachzuschlagen, woher "versaubeuteln" kommt.
Ein moderner Fall Balhorn kam mir aus dem Bekanntenkreis zu Ohren. Ein Freund von mir arbeitet bei einer Regional-Tageszeitung. Vor Jahren installierte sein Haus ein neues Redaktionssystem inklusiver moderner Textprogramme. Just zu dieser Zeit schwelte in der Region eine Kontroverse irgendwelcher Art um einen Lokalpolitiker/ Geschäftsmann. Dieser Mann trägt einen wohl aus dem Slawischen kommenden Nachnamen, der sich dem hiesigen Leser nicht auf Anhieb in seiner Aussprache erschließt.
Die offenbar mit teutschestmöglicher Gründlichkeit und Forschheit arbeitende Korrekturfunktion des neuen Textprogramms aber konnte mit dem Buchstabensalat so GAR nichts anfangen. Es schlug stattdessen kurzerhand eine groteske Wortkorrektur vor, von der bis heute niemand begreift, wie es passieren konnte, dass der einen längeren Artkel über die besagte Kontroverse bearbeitende Redakteur sie übersah, per Mausklick abnickte und in Druck gab. In dem länglichen Artikel, der tags drauf im Blatt stand, hieß der umstrittene Politiker/Geschäftsmann durchgehend, von der Unterzeile bis zum letzten Absatz: Dr. Alfred* Scheißpack! Telefonate folgten und Entschuldigungen, um die Wogen zu glätten. Die Pointe: Wenige Wochen später passierte der gleiche Unfall noch einmal.
Apropos Scheißpack. Sie sehen: verballhornen und versaubeuteln geht heute automatisch und viel effektiver per EDV. Die planlosen Juristen brauchen wir hier in Bayern für höhere Aufgaben. Die sitzen bei uns im Verwaltungsgerichtshof und genehmigen Neonazi-Aufmärsche. (*Vorname geändert)
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