Kolumne Vancouver: Track and Killing Field
Der tödliche Rodelunfall des georgischen Rodlers Nodar Kumaritaschwili stellt die olympische Systemfrage, Nur, wer beantwortet sie?
Sie glaubten, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Die Eröffnungsfeier der Winterspiele wurde dem toten georgischen Rodler Nodar Kumaritaschwili gewidmet. Schweigeminute, die olympische Flagge auf Halbmast und die georgische Delegation, die merkwürdigerweise entschieden hatte, an der Show teilzunehmen, wurde mit einer Standing Ovation empfangen. IOC-Chef Jacques Rogge suchte nach angemessenen Worten und Vanoc-Präsident John Furlong, also der regionale Herr der Ringe, rief die Athleten dazu auf, im Geiste Kumaritaschwilis für sportliche Erfolge zu kämpfen - was das auch immer heißen mag.
Das wars dann. Die Zeit der professionellen Betroffenheit endete abrupt mit der Meldung, dass die Rodelwettbewerbe wie geplant stattfinden. Es ging also routinemäßig weiter, ohne Besinnungspause. Ist es vermessen, dies nach dem Tod eines Sportlers zu verlangen? Gilt uneingeschränkt das Diktum Avery Brundages, der 1972 die berühmt-berüchtigten Worte sprach: "The Games must go on"? Wie hätten wohl die Funktionäre reagiert, wenn es nicht den Fünfundfünfzigsten der letzten Weltcup-Saison erwischt hätte, sondern einen Russen oder Deutschen, also die Rodelelite? Hätte man sich da auch so leicht auf einen Fahrfehler herausreden können?
Markus Völker ist Sport-Redakteur der taz. Über die Olympische Winterspiele berichtet er aus Vancouver.
Die Bahn sei in Ordnung, das will der internationale Rodelverband in einer Blitzuntersuchung herausgefunden haben. Gut, es wurde jetzt ein bisschen die Bande an der Unfallstelle erhöht und das Eis stumpfer gemacht, aber der Schuldige, diesen Schluss muss man aus den Erklärungen der Verantwortlichen ziehen, war schnell gefunden: das Unfallopfer selbst. Auch der Planer der Bahn, ein Leipziger Ingenieur, sprach in einer ersten Reaktion davon, dass sich Kumaritaschwili falsch verhalten haben müsse. Jeder wisse doch, dass, wer sich in der Rinne bei 140 Stundenkilometer aufrichte, mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Aber die Frage sei erlaubt: Warum stehen direkt neben der Bahn Stahlpfeiler, die noch nicht einmal abgepolstert waren? Man schickt ja auch nicht Abfahrtsläufer bei Tempo 100 durch eine Schonung.
Hier ist etwas grundlegend falsch gelaufen. Man hat vor allem eine schnelle Bahn gewollt, die schnellste der Welt. Man wollte mit Geschwindigkeitsrekorden prahlen: Schaut her, in Whistler rasen sie mit 155 Stundenkilometern zu Tal, ist das nicht crazy, terrific, amazing.
Die Stahlpfeiler dienten zur Überdachung der Eisrinne. Denn die ist komplett mit einem Baldachin versehen. Das sorgt für spiegelglattes Eis. Dabei ist es absurd, immer schnellere Bahnen zu bauen. Dem Zuschauer dürfte es egal sein, ob die Piloten mit 120 Sachen oder mit 140 vorbeizischen.
Doch nach dem ersten Schock sind jetzt wieder beschwichtigende Stimmen zu hören: Wer sich in eine Eisrinne begebe, der wisse doch, was für Folgen das haben kann. Rodeln sei eine Risikosportart wie Bobfahren oder Skeleton. Aber die Frage ist doch: Braucht die Sportwelt diese Risikosportarten überhaupt, die nur in einer Handvoll Länder wirklich ernsthaft betrieben werden? Wer nicht Vollprofi ist, der ist nicht nur der Gelackmeierte, wenn es um die Verteilung der Medaillen geht, der gefährdet auch Leib und Leben. Diese Diskussion wird im IOC aber gar nicht erst geführt. Sie würde das System infrage stellen. Auf dem Olymp gilt uneingeschränkt: höher, schneller, weiter.
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