Kolumne Trends und Demut: Rechtsanwalt, rot-weiß
Eine Fastfoodhölle, eine Wettbürokette und eine 24-Stunden Anwaltskanzlei: Auf dem Vorzeigeparcours der britischen Rezession.
E ine Freundin erzählt mir seit Jahren die immergleiche Geschichte von der Sauna ihres damaligen Fitnessstudios. Dort ging es wohl derart regellos zu, dass das Lesen der Sun bei 80 Grad noch zu den harmlosesten Tätigkeiten gehörte. Als irgendwann jemand seine rot-weiße Pappbox der Fastfood-Kette Morleys auspackte und schmatzend Chicken Wings verzehrte, war das der Startschuss zu Aufguss-Anarchie. Als wenig später auf den Bänken ein Klappmesser gefunden wurde, wurde dem regellosen Schwitzen endgültig ein Ende gesetzt. Die Sauna wurde geschlossen.
Das Fitnessstudio rehabilitierte sich schnell und ist heute superschick. Morleys dagegen haftet der Ruf des billigen Verbrechens seitdem an wie das Frittierfett den Pommes. Britische Schüler, Großfamilien und Raver nach der After-Hour steuern in dieser Filiale an einer tosenden Hauptstraße systematisch dem Herzinfarkt entgegen. Warum auch kochen, wenn Onkel Morleys es für ein paar Cent macht: Burger, zwischen denen frittierte, huhnähnliche Organismen klemmen. London ist von diesen sozialen Genussendstationen übersät, ganze Generationen verlorener Jugendlicher verbringen hier ihre Pubertät, denn es sind regellose Räume. Morleys ist eine Art Jugendtreff des Grauens, nur ohne die nervigen Aufseher, dafür mit zwei völlig überarbeiteten pakistanischen Verkäufern. Regelmäßig entzerrt die Polizei hier ineinander verkeilte Banden.
Daneben wirbt mit der gleichen Fassadenkombination aus Rot mit Weiß die Wettbürokette Ladbrokes. Die tristen Wettstuben haben wenig mit unserer nostalgischen Idee der "Bookmakers" zu tun, die darauf setzen, wer in Wimbledon oder beim Turner-Preis gewinnt. Die blutleeren Ladbrokes-Höhlen vermitteln perfide Scheingeborgenheit und schießen gerade jetzt wie Pilze aus dem Boden. Verarmte Rentner setzen hier ihre letzten Pfunde auf Hengste und Fußballclubs. An der Ecke ist schließlich noch ein "Speedy Money"-Laden, genau, ebenfalls in Rot-Weiß, wo sich verschuldete Seelen zu Wucherzinsen Geld leihen können, wenn keine Bank mehr helfen will. In diesen traurigen Vorzeigeparcours der britischen Rezession hat sich seit vergangener Woche ein neues Anwaltsbüro gesetzt. Und anstatt sich mit coolem State-of-the-Art-Design von den traurigen Nachbarn abzugrenzen, benutzt das Büro die exakt gleiche, nach Sonderangebooot! schreiende weiße Schrift auf knallrotem Untergrund! Ist das nur noch Zynismus oder kompromisslose Solidarisierung?
JULIA GROSSE lebt in London und ist Kulturjournalistin.
"24 Hours Criminal Defence Solicitors" heißt es fett auf dem Schild. Auch die Frittierhölle Morleys ist rund um die Uhr für seine Gäste da, und man kann davon ausgehen, dass die Scheinsolidarisierung, aufgebaut durch die vertraute Rot-Weiß-Farbkombination, für diese neue Kanzlei perfekt aufgehen wird. Auf einer Länge von 20 Metern entsteht hier ein sozialer, tieftrauriger Mikrokosmos: Mit einer dampfenden Chicken-Box geht es erst in die Wettstube und danach zum Anwalt, um in vertrauter Atmosphäre seine Strafanzeige zu diskutieren.
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