Kolumne Nachbarn: Hund!
Täglich wiederholte sich in der Nachbarzelle dasselbe Ereignis: Der Gefangene bat um Wasser, der Wärter schlug ihn.
N achdem einige Tage vergangen waren, seitdem ich in Haft genommen wurde, bemerkte ich, dass sich ein Ereignis täglich fast zur selben Zeit wiederholte. Ich konnte nämlich die Gespräche der Häftlinge in den Nebenzellen hören, dabei fiel mir die Stimme eines erschöpften Mannes auf. Der Mann klopfte unentwegt gegen die Tür seiner Zelle, während er den Wärter anflehte: „Bitte, mein Sohn, gib mir doch nur einen Schluck Wasser.“
Die Bitte wiederholte er, bis der Wärter zurückbrüllte: „Sei still, du Hund. Hunde kriegen nichts zu trinken. Trink deinen Urin oder den deiner Mutter!“
Warum glaubte der Wärter, dass Hunde nichts zu trinken brauchen? Das fragte ich mich jedes Mal, wenn ich hörte, wie der Wärter die Gefangenen als Hunde beschimpfte.
Die ältere erschöpfte Stimme gab nicht auf, bis der Wärter sich dem Widerstand des Gefangenen beugte. Dann schloss der Wärter die Zelle auf und heulte den Mann wie ein Wolf an: „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst still sein, du Hund? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst deinen Urin oder den deiner Mutter trinken?“ Dann hörte ich, wie er heftig auf den Körper des Häftlings einschlug. Und wenn er mit den Schlägen fertig war, sagte er: „Jetzt kriegst du etwas zu trinken; du Hund.“
Bei diesen und ähnlichen Situationen ging ich auf Zehenspitzen vorsichtig Richtung Zellentür, damit der Wärter mich nicht bemerkte. Es war ein kleines Loch in der Tür. Ich könnte nicht den ganzen Körper des Wärters sehen und auch nicht den des Häftlings. Den Wärter erkannte ich an seinen Kleidern. Der Häftling war nur mit einer zerschlissenen, mit Blut beschmierten Unterhose bekleidet.
Aus Versehen verhaftet
Dieses Ereignis wiederholte sich tagaus, tagein. Eines Tages bestellte mich der Gefängnisdirektor zu sich zum Verhör. Der Wärter kam wie immer in meine Zelle und verband mir die Augen, bevor er mich dem Gefängnisdirektor vorführte. Dort nahm er mir die Augenbinde ab und befahl mir, in einer Ecke stehen zu bleiben, bis der Direktor seine Arbeit erledigt hatte und mich zu sich heranwinkte. Ich bemerkte, dass der besagte Direktor gerade dabei war, einem alten, sichtbar geschwächten Mann die Habseligkeiten auszuhändigen, die er bei seiner Festnahme bei sich trug. Es waren ein Gürtel, eine Armbanduhr und ein Geldbeutel; ein alter Geldbeutel.
Der Häftling war um die 70 Jahre alt, er zitterte am ganzen Körper, seine Hose war ziemlich weit. Er hielt sie am Gürtel und ich erschrak sehr darüber, wie abgemagert er war.
Ich versuchte nicht zu weinen und wollte Stärke zeigen. Doch mein Stolz war nicht von langer Dauer. Denn als der Mann zu sprechen begann, merkte ich, dass er der Mann mit der müden Stimme aus der Zelle nebenan war. Er bedankte sich leise und höflich beim Direktor mit den Worten: „Danke, mein Sohn.“
Der Direktor des Gefängnisses sagte ihm, bevor er ihn entließ: „Hör zu, wenn du hier rauskommst, erzähl bloß nichts Schlechtes über uns. Du musst wissen, dass wir dich aus Versehen verhaftet haben. Es war bloß eine Namensverwechslung.“
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!