Kolumne Märchen: Wer hat Angst vor Manfred Z.?
Wir erzählen Märchen. Heute: Das Hutzelmütterchen und ihr ungeratener Sohn.
Vor vielen, vielen Jahren, als Märchen noch die Wahrheit waren, da wohnte ein kleines Mädchen, dessen Name im Verlaufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geraten ist - daher nennen wir es hier der Einfachheit halber Corinna S. -, dieses Mädchen also wohnte mit seinem Mütterlein zur Miete in einem großen, düsteren Haus.
Weiter wohnte in dem Haus, zwei Stockwerke über dem Obdach des Mädchens und seines Mütterleins, ein Mann namens Manfred Z., ebenfalls mit seinem uralten Mütterchen. Das Mädchen mag zum Zeitpunkte, an dem unsere Geschichte spielt, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein, und es kannte Manfred Z. nur aus dem Hausflur. Dessen hutzelige Mutter aber hatte das Mädchen erst ein einziges Mal durch den Türspion erblicken und beobachten können, wie sie bucklig, mit schwarzem Kopftuch und warzennasig zwei schwere Einkaufstüten die Treppe hinaufschleppte.
Corinna S. fand Manfred Z. zutiefst unheimlich: weil über ihn gemunkelt wurde, er sei ein schwerer Trinker, weil er stets einen ranzigen Geruch verströmte, weil er strähniges, schütteres Haar hatte und weil man abends oft laute Streitereien und Schreie aus seiner Wohnung hören konnte. Andere Nachbarn riefen bei solchen Gelegenheiten zuweilen die Schutzmänner an, doch weder das Hutzelweib noch dessen ungeratener Sohn hatten den Ordnungshütern gegenüber je einen Zwist zugegeben.
Nun begab es sich eines sonnigen Tages, dass das Mädchen und das Hutzelweib sich an der Tür des Hauses begegneten. Das Hutzelweib trug wieder zwei schwere Einkaufstüten bei sich.
Nun muss man an dieser Stelle erwähnen, dass Corinna S. nicht wirklich ein Pfadfinderherz besaß. Aber ach, wie sie doch die Neugier plagte Sie bot dem Hutzelweib an, die schweren Tüten bis in dessen Wohnung hinaufzutragen. So gelangte das Mädchen zum ersten und letzten Mal in die legendenumrankte Wohnung von Manfred Z. und dem Hutzelmütterchen. Etwas enttäuscht stellte es fest, dass es dort leider keine Drudenfüße an den Wänden oder in Einmachgläsern eingemachte Spinnenbeine gab. Es war nur etwas unordentlich und roch nicht gut.
Das Hutzelweib hatte sich direkt auf das Sofa gelegt und die Schuhe abgestreift. Verkrüppelte Zehen kamen zum Vorschein, und das Hutzelweib begann vom Krieg zu erzählen, von Russland, von Läusen und davon, dass es auch einmal, vor vielen, vielen Jahren, ein junges Mädchen gewesen sei
"Du warst WO??" Des Mädchens Mütterlein drehte beinahe durch, schimpfte und und brach in heiße Zähren der Erleichterung aus, als das Mädchen nach vielen, vielen Stunden endlich wieder daheim war. Sie bestürmte das Kind mit Vorwürfen und Fragen, ob es sich denn nicht Gedanken darüber gemacht hätte, was alles hätte passieren können, wenn Manfred Z. dort aufgetaucht wäre. Das Mädchen fühlte sich sehr ungerecht behandelt, hatte es doch nur einer alten Frau die Tüten hochgetragen! Es rannte in sein Zimmer, riss das Fenster auf und warf das doofe Zweimarkstück - der Lohn des Tütenhochtragens, den das Hutzelweib noch hervorgekramt hatte - hinaus! Im gleichen Augenblick wollte das Mädchen das Zweimarkstück aber wieder zurückhaben, denn in Sekundenbruchteilen war ihm klar geworden, wie viele Lakritz-Stangen man von zwei Mark kaufen konnte, und das Mädchen beschloss, das Zweimarkstück, das dummerweise auf dem Kristalldach über der Terrasse des grobschlächtigen, furchteinflößenden Vermieters gelandet war, mittels des Staubsaugers hochzusaugen. Dummerweise krachte die unterste Staubsaugertülle ebenfalls auf das Kristalldach des Vermieters und hinterließ mehrere Risse in dem Dach
Nicht lange Zeit später zog das Mütterlein deswegen mit dem Mädchen in ein anderes Haus. Aus der lokalen Presse erfuhr man später, dass Manfred Z. seine Mutter irgendwann doch noch im Streit erschlagen hatte. Und wenn das Mütterchen von Manfred Z. nicht plötzlich wieder lebt, dann ist es tot bis heute.
Fragen zum Trinker? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!