piwik no script img

Kolumne KatastrophenZahnlose Freuden

Kommentar von Kirsten Reinhardt

Warum positiv und niedlich sein, wenn es auch negativ und pervers geht?

Z urzeit beschäftigen mich im besonderen Maße zwei Tagebücher. Eins ist über vierzig Jahre alt, und an dem anderen wird jetzt gerade geschrieben. Beide befassen sich mit dem menschlichen Körper und seinen Funktionen - am Anfang und am Ende eines Lebens. Es handelt sich um Junichiro Tanizakis "Tagebuch eines alten Narren" aus dem Jahr 1962 und den Blog eines Babys von zwei mir bekannten jungen Eltern.

Bild: sandra böhme

Kirsten Reinhardt (30) arbeitet in der Online-Redaktion der taz

Jaja, Sie haben richtig gelesen: Blog eines Babys. Da gibt es jeden Tag ein Foto und einen aus der Babyperspektive und in Babysprache abgefassten Eintrag. Bilder vom Baden, Essen, Grimassieren und Spazierenfahren; Geschichten von Bäuerchen, Pipimachen und Stillen. Da heißt es etwa "Mamas Milch schmeckt extra lecker" und - ich kann nichts dagegen tun - mir wird eine wenig wunderlich zumute.

Das allerdings passiert auch beim Lesen des anderen Tagebuches. "Häufig Verstopfung; nach erfolgtem Stuhlgang Neigung zu Anfällen" lautet ein Eintrag. Der "alte Narr" - ein 77-jähriger Japaner - beschreibt die Vorgänge seines Körpers detailliert. Der eine Tagebuch-Körper hört gerade damit auf zu funktionieren, während der andere gerade erst damit beginnt.

"Ich hänge nicht mehr im Mindesten an diesem Dasein; aber solange ich auf Erden bin, fühle ich mich nun einmal unwiderstehlich zu den Frauen hingezogen. Ich glaube, das wird sich bis zu meinem letzten Atemzug nicht ändern. Ich habe zwar nicht die Vitalität eines Kubara Fusanosuke, der noch mit neunzig Jahren Kinder zeugte - dazu wäre ich nicht mehr fähig -, aber das Geschlechtliche beglückt mich noch immer, wenn auch indirekt und auf andere Art", schreibt der alte Ojiisan (übersetzbar mit: Großvater), um dann seine Ess- und Ausscheidungsgewohnheiten, den Blutdruck und die genaue Abfolge der Medikamenteneinnahme aufs Papier zu pinseln.

Diese beiden Aufzeichnungen haben etwas hinreißend Kreatürliches. Allerdings sollen die des Babys wohl vor allem niedlich sein. Und total positiv. Immer sind irgendwelche Verwandten mit auf den Fotos, die sich fürchterlich freuen und gerade ein Digitalfoto von dem kleinen Hosenscheißer machen.

Der Ojiisan ist weder positiv noch niedlich. Er nimmt sein Gebiss raus (noch so eine Baby-Ähnlichkeit), damit er sich neben seiner von ihm angeschmachteten Schwiegertochter noch hässlicher ausnimmt, und versucht dann, die junge Frau davon zu überzeugen, dass er ihre Zehen in den Mund nehmen darf.

Im Japanischen gibt es einen Ausdruck für "perverser alter Mann": "Oyaji" Und so einer ist der alte Narr Tanizakis. "Anomale Sexualität" urteilen die Ärzte am Ende des Tagebuchs über den faltigen Kerl.

"Anomale Aktivität" ist es, die ich dem Blog-Baby attestiere. Wobei das arme Ding selbst ja gar nicht weiß, was da in seinem Namen der Welt kundgetan wird. Eigentlich ist das ein Fall für die Menschrechtskommission. Was dem Kind da alles unterstellt wird: Es findet den Nikolaus nett, alle Verwandten sowieso supernett, badet echt gern und wird noch lieber fotografiert.

So sehr sich Baby und Oyaji ähneln - überschreiten sie doch beide gnadenlos Grenzen, pinkeln und sabbern in der Gegend herum - der alte Mann entscheidet immerhin selbst, was er da zu Papier bringt. Beziehungsweise entschied der Schriftsteller Junichiro Tanizaki das, denn der alte Ojiisan ist ja eine fiktive Figur. Doch eigentlich ist das das Blog-Baby ja auch: die Fiktion von Eltern, die sich ihr Wunschkind erschreiben. Warum sie das in aller Öffentlichkeit tun? Darauf weiß ich auch keine Antwort.

Mag sein, es ist es der pure Zynismus, der mir die Freuden versagt, die Welt durch die unschuldig-neugierigen Augen eines Kindes zu sehen. Aber ich sehe sie eben lieber durch die eines alten, perversen Mannes.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!