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Kolumne IdoleH1N1 in der Gummibärchenfalle

Einst waren die Ärzte allmächtig. Heute haben sie hässliche Schuhe und keinen Schimmer.

W ir hatten Symptome wie aus dem Bilderbuch. Oder wie von der Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit. Und als brav-besorgte Kranke befolgten wir deren Rat und besuchten einen Arzt. Der würde, so stand es zumindest offiziell geschrieben, einen Test machen.

Doch in der Realität, sprich: beim Arzt, scheint die neue Grippe noch nicht angekommen zu sein. Dem Kind wurde ein "nicht näher bestimmter viraler Infekt" attestiert. Man selber sei über das Gröbste hinweg. Golden waren die Zeiten, als man noch Kind und der Arzt allmächtig war. Obwohl er absolut grenzüberschreitende Dinge tun und die gerade erst entstehende Intimsphäre auf das Übelste verletzten durfte. Einem einen Holzspachtel in den Rachen schieben und hineinspähen, mit einer Lupenlampe die Ohren inspizieren, abtasten, pieksen. Ähnlich abartige Dinge erlaubten sich sonst nur Mütter oder Omas: Einen, obwohl man dafür schon viel zu groß war, in aller Öffentlichkeit knutschen und dabei ein schmatzendes Knallgeräusch machen. Oder ein Stofftaschentuch mit Speichel benetzen und einem damit (imaginäre) Marmeladenreste aus dem Gesicht wischen. Dass so etwas aufhörte, daran arbeitete man stetig und mit immer bewussterem Ich.

Dem Arzt der Kindheit war dieses Ich egal, es durfte ihm sogar egal sein. Er hatte eine Mission in der es galt, unliebsame Tierchen (Bakterien, Viren) und andere fiese Dinge zu diagnostizieren, in Fachsprache zu parlieren und Tinkturen und Mittelchen zu verschreiben. Gern schleimige Medizin in Rosa, die nach aufgelöstem Kaugummi schmeckte und sehr gut half.

Bild: taz

Kirsten Reinhardt arbeitet in der Online-Redaktion der taz.

In meinem Fall war der Doktor Herr D. ein kleiner, beinahe kantiger Mann mit weißem Haar und heiterem Gemüt. Er konnte seinen Schluckreflex unterdrücken und eine Literflasche Wasser einfach so in sich hineinschütten, was natürlich zum Totlachen aussah. Außerdem waren da die Gummibärchen. Selbst gefangen, kein Witz. "In meinem Garten", so erklärte Herr D. stets auf Neue und nie war ich dieser Geschichte müde, "in meinem Garten gehen nachts die Gummibärchen spazieren. Also stecke ich meine Gummibärchenfallen bis zum Rand in die Erde, sodass sie hineinplumpsen." Herr D. hatte immer eines dieser Glasröhrchen für Blut, voller gefangener Gummibärchen für mich. Ich war kein vollständig debiles Kind. Ich wusste, dass es Gummibärchen in Plastik im Supermarkt zu kaufen gab. Aber Herrn D.s Logik konnte und wollte ich mich nicht entziehen.

Heute ist das anders. Gummibärchenfallen werden nur noch selten aufgestellt und Ärzte sind Menschen geworden. Menschen mit schlechter Haltung, fettigem Haar, hässlichen Schuhen und Mundgeruch. Ganz normale Menschen eben. Welche, die Recht haben können, aber auch nicht. "Die Ärzte werden immer jünger", hatte meine Oma geklagt.

Mein jetziger Arzt, die angepeilte H1N1-Rettung, war nicht jung. Grauhaarig, eher der Typ "verwirrter Professor". Mit viel zu großen Schuhen für seine dünnen Beine stakste er in der Praxis herum, hörte sich mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck meine Sorgen an und starrte dabei auf den Bildschirm eines alten Röhrencomputers. Atemnot? "Keine Panik." Die Schweinegrippe? "Den Test machen wir nur, wenn es wirklich nötig ist." Ich hätte ihn trotzdem gern gemacht. Einfach um zu wissen, ob wir nun durch sind damit. Ob ich zum Beispiel die Haltegriffe in der U-Bahn ablecken kann, ohne sterben zu müssen. Beim Rausgehen frage ich die Dame am Empfang, ob sie denn schon geimpft sei. Sie guckt völlig desinteressiert. "Nö. Gibt ja noch keinen Impfstoff."

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