Kolumne Gerüchte: Spaziergang ins Militärgebiet
Warum Männer weniger Lust auf Sex haben, hat Freund F. erklärt. Schließlich sind auch die Finanzmärkte in der Krise.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
Eigentlich wollte ich mit F. über die Finanzkrise reden. Denn oft haben wir ökonomische Theorien gewälzt, damals in unsrer WG. Doch es kommt anders.
"Diese Erwartungen", sagt F., als wir durch den Wald stapfen, "das hat dich erdrückt." Nach fünf Jahren ist die Beziehung von F. und A. auseinandergegangen. Deswegen geht es ihm nicht gut. Ich habe den Spaziergang vorgeschlagen, in der Murellenschlucht in Ruhleben in Berlin. Es ist ein ehemaliges militärisches Sperrgebiet, heute ein Geheimtipp für Naturliebhaber.
"Du bist sowieso schon so erledigt von der Arbeit", schildert F., "und zu Hause dann noch mehr Stress. Das ging bis hin zum Sex." Er habe immer das Gefühl gehabt, seine Freundin fühle sich erst vollständig, wenn er mit ihr schlafen mochte. "Es war, als hinge ihr Selbstbewusstsein davon ab, dass ich was von ihr wollte. Wenn ich auf Abstand ging, fing sie an zu rotieren." F. ist aufgewühlt. Mit dem Thema Finanzkrise wird es heute wohl nichts. Dabei gibt es Parallelen. Denn immerhin erzeugt auch der Sex Vermutungen, die Annahmen hervorbringen, die sich zu vermeintlichen Überzeugungen verdichten, bis die Sache auffliegt und alle Werte ins Nichts zerfallen. Wer hat zum Beispiel diese Annahme in die Welt gesetzt, dass Männer "immer nur das eine" wollen? So, als sei der männliche Sex unerschöpflich wie ein Häuserkredit, der sich angeblich selbst finanziert?
Kam dieser verrückte Gedanke noch aus der Zeit ohne Antibabypille, als sich die Frauen die Männer vom Leibe halten mussten, weil sonst eine unerwünschte Schwangerschaft drohte? Stammt die Idee noch aus Kriegszeiten? Oder hat man einfach die hormonelle Ausstattung eines 20-Jährigen auf den Rest der männlichen Bevölkerung übertragen, gewissermaßen zu Werbezwecken?
"Vielleicht hätte sie mehr eigene Interessen verfolgen sollen", sagt F., "Sport zum Beispiel. Irgendwas zum Abreagieren." Jetzt bleibt mir doch die Luft weg. Ein Mann, der seiner Frau empfiehlt, mehr Sport zu treiben, um ihre überschüssige sexuelle Energie loszuwerden - das ist bemerkenswert. Ich fühle mich wie eine Anthropologin, die auf einen bisher unbekannten Stamm mit unbekannten Verhaltensweisen gestoßen ist. Das ist schon aufregend.
"Teilweise war sie richtig fordernd", schildert F., "so, als habe sie als Frau ein Recht auf Sex." Mir fällt ein Artikel im Internet ein, in dem es um die neue Unlust der Männer ging. Sinngemäß hieß es, Männer hätten keine Lust mehr auf Sex, weil es abturnend ist, nur noch das zu tun, was alle Frauen von einem erwarten. So was leuchtet ein. Hinzu käme der Arbeitsstress in einer Leistungsgesellschaft, der alle Energien absauge, zumal man nach der Arbeit auch noch im Fitnesscenter am Waschbrettbauch ackern solle.
Irgendwer hat geschrieben, dass Männer in ihrem Rollenverständnis durcheinanderkommen mit Partnerinnen, die sich privat nicht mehr ohne Weiteres in liebliche Elfen verwandeln können. Was man wiederum den Frauen nicht übel nehmen könne, schließlich dürften sie im Beruf nicht irgendwelche Unterwerfungssignale aussenden, wollten sie nicht als Sekretärin enden. Dann privat umzuschalten und die heiße Sexmaus zu geben, sei nicht einfach. Es gebe massive Rollenprobleme. So was ist für eine Anthropologin natürlich interessant. "Man muss umdenken", hatte auch Freundin Theresa schon mal verkündet, "Frauen müssen ihr Selbstwertgefühl vom männlichen Begehren lösen. Man muss genug andere Glücksressourcen haben." Theresa ist übrigens eine ausgesprochene Männerfreundin.
F. und ich haben die Lichtung erreicht, wo 240 Deserteure im Zweiten Weltkrieg hingerichtet wurden. Künstler haben an der Stelle zum Gedenken mehr als drei Dutzend Verkehrsspiegel aufgestellt. "Tragisch", sagt F. zu der Geschichte. Wir versuchen, uns in den Spiegeln wiederzufinden, winken und hüpfen. Doch unsere Bilder sehen wir immer nur verzerrt. "Schräge Welt", meint F. "Stimmt", sage ich, "und jetzt lass uns mal über die Finanzkrise reden. Bist du eigentlich betroffen?"
Fragen zum Wald? kolumne@taz.de Morgen: Anja Maier SPECKGÜRTEL
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