Kolumne Fußballland: Spanische Schwadronierkultur
Der Sound der iberischen Stadien ist ein "Uiiiii" - im Gegensatz zum wütenden "Arrrghhh", das den englischen Fußball begleitet
Eines der erstaunlichsten Banner, das man derzeit in Europas Stadien sehen kann, hängt im Estadio Ramón Sánchez Pizjuán des FC Sevilla rechts neben der Eckfahne. "Arte & Vida" steht darauf zu lesen, und das ist nun wahrlich keine Botschaft, wie man sie beim Fußball sonst findet. Kunst und Leben hochleben zu lassen, ist schließlich nicht unbedingt das, was sonst im Stadion passiert, jedenfalls nicht in unseren Breiten, wo der Sieg die höchste Maxime ist und der Lärm, von dem später noch die Rede sein soll.
Doch in spanischen Stadien geht sowieso vieles anders zu, nicht nur, dass die Zuschauer Sonnenblumenkerne knabbern, anstatt Würstchen zu essen. So gehen in verblüffend großer Zahl Frauen ins Stadion, und das auch noch aller Generationen. Denn ganz selbstverständlich trifft man auf kleine Trupps weiblicher Teenager, die nicht ihre Freunde oder Brüder ins Stadion begleiten, sondern dort sind, weil sie selbst es wollen. Und nicht nur beim FC Sevilla sieht man zugleich in bemerkenswerter Zahl Fan-Omas, die im rot-weißen Trikot auf der Tribüne sitzen, und das ganz eindeutig nicht allein zum Gefallen ihrer Enkelsöhne. Die Frage danach, wie man denn als Kind zum Fußball gekommen ist, werden in Spanien also nicht wenige damit beantworten: "An der Hand meiner Oma."
Aber Spanien ist auch eines der Länder, in denen Nick Hornbys "Fever Pitch" das Publikum nur wenig beeindruckte, weil Fußball dort als Vater-Sohn-Modell erzählt wird und die Begeisterung für Fußball eine männliche ist. Doch das Zuschauergeräusch im englischen Fußball ist auch ein wütendes "Arrrghhh", während man im spanischen Stadion eher das "Uiiiii" hört. Und nicht nur dann, wenn der Ball knapp am Tor vorbeisaust, sondern auch bei einem tollen Trick. Anschließend knabbern die Menschen wieder konzentriert an ihren Sonnenblumenkernen herum.
Im als heißblütig geltenden Sevilla wird sogar mitunter engagiert gesungen wie auch unweit davon in Cadiz, wo der "Yellow Submarine" genannte CF Cadiz vor einem Publikum spielt, das als eines der fanatischsten des Landes gilt. Trotzdem funktioniert der Fußball akustisch anders als bei uns.
Hierzulande und auch sonst in Nordeuropa gilt nämlich laut als gut. Lautstarke Fans sind besser, weil sie physisch und quasi messbar ihre Passion zum Ausdruck bringen. Die anderen sind leiser als Fortuna Köln. Dieser Umstand hat leider dazu geführt, dass die Klubs meinen, besonders laut sei auch besonders gut, weshalb wir vor den Spielen, in der Pause und nach Abpfiff so zugedröhnt werden, bis auf den Tribünen auch das letzte Gespräch erstorben ist. Übrigens auch die Gesänge, denn wer kann schon Stadion-PAs niedersingen.
In Spanien indes geht es vielerorts noch so zu, dass bis zum Anpfiff überhaupt keine Musik gespielt wird oder bestenfalls ein steinaltes Vereinslied wie "¡Hala Mádrid!" im Estadio Santiago Bernabeu. Auch das, was sich bei uns Fanblock nennt, ist vergleichsweise winzig und nur gelegentlich laut. Doch wer nun glaubt, das sei ein Ausdruck von geringerem Interesse an Fußball, hat nicht verstanden. (Nicht nur, dass man doch nicht gleichzeitig Krach machen und richtig zuschauen kann.) Oder noch nicht erlebt, wie die spanischen Fans im Stadion zugleich das Spiel im Radio hören mit seinen Armeen von Analysten und Interpreten vor den Mikros, die auch nach Abpfiff bis tief in die Nacht weitermachen, um am folgenden Tag seitenweise die Sportzeitungen zu füllen. Ozeanische Dimensionen hat diese herrliche iberische Schwadronierkultur, die so wunderbare Blüten treibt wie den argentinischen Weltmeister Jorge Valdano, dessen Fußballbetrachtungen alle Bestandteile von intellektuellen Salonplaudereien haben.
Wenn Kunst und Leben auf diese Weise in Einklang gebracht werden, ist alles möglich. Auch das Gegenteil von versunkenem Knabbern, wie sich die lautstarken Schalker erinnern. Jene nämlich, die dabei waren, erzählen noch heute davon, wie im Frühjahr 2006 die Fans des FC Sevilla ihre Mannschaft im eigenen Stadion ins Finale des Uefa-Cups sangen. CHRISTOPH BIERMANN
Fotohinweis:Christoph Biermann, 46, liebt Fußball und schreibt darüber
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