Kolumne Finnland: Finnisch für Anfänger
Freie Sitzwahl in den Büros, billige Wohnungen und vorzeitiger Zwangsruhestand: Der Norden ist in der Krise.
I n dem Viertel, in dem ich jetzt wohne, blüht der Flieder und viele Männer flechten sich einen Zopf in ihren Bart. Die Mietskasernen sind hoch und langgezogen. Kallio, das ehemalige Arbeiterviertel, zählt zu den dichtbesiedeltsten Bezirken von Helsinki. Und noch immer leben hier viele Menschen mit wenig Geld, was man nicht nur an der Bartmode, sondern vor allem daran erkennt, dass viele von ihnen viel Zeit haben. Zeit, auf den Felsen zu sitzen, die hier an jeder Ecke rumstehen und dem Viertel seinen Namen geben - und Zeit, in einer der vielen dunkel gehaltenen Kneipen Bier zu trinken. Oder sie sitzen vergnügt mit einem Sixpack auf der Treppe vor meinem Fenster.
Ines Kappert ist Redakteurin im taz-Meinungsressort.
In dem sitze ich, sobald das Thermometer die 12 Grad überschritten hat. Dann hänge ich meine Beine raus, die fast auf den Boden reichen, und trinke - wie sich das für eine ordentliche Finnin gehört - Kaffee. Zu jeder Tageszeit. Hell ist es ja sowieso. Außerdem freue mich an der Ruhe. Die liegt weniger an den Menschen rings um mich herum. Die sind zumeist gut gelaunt und eher nicht auf Lärmvermeidung bedacht - ganz entgegen dem von Aki Kaurismäki in die Welt getragenen Bild vom ewig schweigenden Finnen. Die Ruhe kommt vor allem von den vielen Autos, die hier nicht fahren. Dabei sind die Straßen breit. Offenbar hat man mal mit mehr Verkehr gerechnet.
Tango tanzt man hier übrigens auch nicht, weder in diesem noch in anderen Vierteln. Meine Vermieterin erklärte mich kurzerhand für bescheuert, als ich sie nach Kursen fragte. Bei meinem entschuldigenden Verweis auf Kaurismäki-Filme verdrehte sie nur die Augen. Generell hat dieser Filmemacher hierzulande keinen guten Stand.
Zu den AnwohnerInnen von Kallio gehören selbstverständlich auch Studierende und ein älter werdendes Alternativvolk, das in der ein oder anderen "besseren" Kneipe entspannt Weißwein oder Bier trinkt - zumeist mit guten Kappen auf dem Kopf, da können deutsche GroßstädterInnen was lernen. Allesamt profitieren sie von den durch die Rentner, Armen und AlkoholikerInnen vergleichsweise niedrig gehaltenen Mieten. Wie ich.
In der Redaktion der einzigen überregionalen Tageszeitung Finnlands, die mir für die nächsten zwei Monate Unterschlupf bietet, haben mich die KollegInnen freundlich ausgelacht, als ich meine Adresse nannte. Ein wenig später ist mein Gastgeber, der Chef des Auslandsressorts, gar nicht mehr auf Abgrenzung bedacht und erzählt mir, gleich müsse er den jüngeren KollegInnen mitteilen, dass ihre befristeten Verträge nicht in den Herbst verlängert werden. Helsingin Sanomat ist in der Krise.
Die Älteren wurden bereits in den Vorruhestand geschickt. "Dabei müssten wir doch jetzt Geschichten erzählen." Er regt sich auf. "Die meisten haben ja noch gar nicht kapiert, was das Einbrechen des Luxusmarktes für die armen Länder und die Arbeiter dort bedeutet." Und merkt dann lachend an: "Dafür kannst du dir jetzt aussuchen, wo du sitzen magst." Mit einer großen Geste zeigt er über das riesige, schicke Großraumbüro. Ich habe die Wahl zwischen rund 15 unbesetzten Arbeitsboxen. Auf den anderen Etagen sieht es nicht voller aus.
Kaum habe ich meinen Computer in Beschlag genommen, kommen die KollegInnen vorbei, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung ist. Man freut sich über die Fremde, und Berlin finden ohnehin alle toll. Ich könne ruhig ein wenig Lärm machen. Die Stille sei ja arg, meint eine junge Journalistin. "Aber vielleicht gut für unseren Intellekt." Sie grinst und geht - die Wahlen im Iran wollen vorbereitet sein.
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