piwik no script img

Kolumne Das TuchDer größte Mann der Welt

Kolumne
von Kübra Yücel

Wo ist die erste Generation muslimischer Einwanderer? Sie ist noch da. Und wird doch bald fehlen.

E s ist der zweite Tag des Ramadan. Wir haben uns schick angezogen und besuchen die Freunde meiner Großeltern. Schon lange war ich nicht mehr in dem Hamburger Hochhaus-Arbeiterviertel, wo meine Großeltern damals wohnten.

Der Riesenfels auf der Wiese, auf dem wir als Kinder spielten, ist nur noch ein mittelgroßer Stein, und die Häuser sind auch nicht mehr so hoch, stelle ich überrascht fest. Und Tante Serife, die ehemalige Nachbarin und Familienfreundin, ist viel kleiner als ich, sie reicht mir gerade mal bis zur Brust. Zuletzt haben wir uns vor Jahren gesehen. Tante Serife ist seitdem noch etwas rundlicher geworden, hat aber immer noch das freundliche Gesicht von damals. "Ihr seid aber groß geworden", sagt sie, als sie mich und meine Schwester sieht, und umarmt uns herzlich.

Im Wohnzimmer sitzen ältere Damen in einer Runde und erzählen von früher. Früher, da konnte ich bei meiner Oma nie einschlafen, weil die alte Wanduhr im Wohnzimmer so laut tickte. Am Morgen des Festes aber liefen wir voller Energie durch die Wohnung meiner Großeltern und küssten die Hände der Erwachsenen, ein Zeichen des Respekts. Dafür gab es dann Kleingeld und Süßigkeiten. Nach und nach füllte sich die Wohnung mit Nachbarn und Freunden. Es wurde voll, laut und lebendig.

Bild: privat

Jahrgang 1988, lebt in Hamburg und London. In der britischen Hauptstadt studiert sie Politikwissenschaften. Daneben schreibt sie ihren Blog "Ein Fremdwörterbuch".

Wie alle Großmütter war auch meine Großmutter eine großartige Köchin. Sie kümmerte sich um die Gäste, versorgte sie mit ihrem beliebten Blätterteiggericht und schmierte mir heimlich Schokoladenbrötchen. Bei meinem Großvater gab es immer Obst. Jedem Enkelkind steckte er Apfelstückchen in den Mund und reichte Weintrauben nach. Für mich war er der größte und längste Mann auf der Welt. Das lag am gesunden Obst, da war ich mir sicher. Ich habe es geliebt, an seinem Bart zu ziehen, an ihm herumzuklettern und auf seinem Schoß zu sitzen. Heute ist er krank, und tragen kann er mich auch nicht mehr - wobei das eher an mir liegt als an ihm.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Feste wir nun schon ohne meine Großeltern feiern mussten. Sie sind in der Türkei, wo sie die Hälfte des Jahres verbringen. Früher machte mir das nichts aus - sie wollen einfach nur ihr Leben genießen und urlauben, dachte ich. Jetzt weiß ich es besser. Nach vierzig Jahren harter Arbeit hier fühlt mein Großvater, dass er keinen Platz mehr in Deutschland hat. Wir, Kinder und Enkel, sind der einzige Grund, warum beide jedes Jahr aufs Neue nach Deutschland kommen. Noch viel mehr als wir sind sie hin und her gerissen zwischen zwei Ländern und Welten. Ihr Herz ist im ewig fremden Deutschland bei ihrer Familie, schlägt aber für die Türkei, ihre Heimat.

Kürzlich las ich "Ganz unten" von Günter Wallraff. Ich weiß, dass auch mein Großvater ähnliche Erlebnisse wie Wallraff (oder "Ali") hatte. Uns gegenüber hat er Deutschland aber nie schlechtgeredet, nie hat er ein schlechtes Wort über die "Deutschen" verloren. Er ist der größte Mann der Welt für mich.

Im Wohnzimmer sitzen noch immer die alten Damen und schwelgen in Erinnerungen. Es werden immer weniger von ihnen. Sie fehlen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

16 Kommentare

 / 
  • S
    SchokoBon

    Vielen dank liebe Kübra für all deine hervorragend und auf höchst wortgewandtte Weise geschriebenen Kolumnen. Ich bin ein großer Anhänger deiner Seite !

     

    Und nun meine Kommentare, die ich, so temperamentvoll ich bekanntlicherweise als Türkin bin, zu all jenen Kommentaren, die in ihrem Unsinn nicht zu übertreffen sind :

     

    @ Krusty : hier ist KEIN DEUTSCHER beschuldigt worden !! Ich wiederhole : KEIN DEUTSCHER !

    Zitat : "Uns gegenüber hat er Deutschland aber nie schlechtgeredet, nie hat er ein schlechtes Wort über die "Deutschen" verloren. Er ist der größte Mann der Welt für mich. " .. Und ?? Was heißt das jetzt ??

    Kann man nicht einmal, nur ein einziges Mal die positive Message in einer der grandiosen Kolumnen Kübra Gümüsays herausfiltern? Aber nein. Ich spreche zu einer Wand. Genauso wie Kübra Gümüsay es (zum Teil) bedauerlicherweise tut. Es gibt keine verständnisvollen, INTELLEKTUELLEN, INTELLIGENTEN Menschen mehr. Oder man trifft sie leider zu selten.

     

    @PaulchenPanzer & @basti : Wenn Ihnen die Kolumnen nicht gefallen, wenn Sie sie unnötig oder gar "unzumutbar" finden, dann habe ich eine äußerst simple, aber auch effektive Lösung für Sie und ihre Leidensgenossen : LEST SIE EINFACH NICHT !

    Denn diese Kolumnen sind schlicht und einfach an intellektuelle Menschen gerichtet, die den Sinn hinter solch anspruchsvollen Konfliktthemen zu verstehen vermögen.

  • MS
    Meinhard Schröder

    Es gehört schon etwas Mitgefühl dazu, sich in die Rolle der eigenen Großeltern hineinzuversetzen, ja und sich seiner eigenen Kindheit zu erinnern. Frage an einige Kommentatoren: Könnt oder wollt ihr das nicht?

    Auf jeden Fall ist diese Kolumne mindestens ebenso viel wert wie ein Haufen Tickermeldungen oder mancher Artikel zu einem hochgejubelten aktuellen Megathema. Ich jedenfalls freue mich auf eine neue Kübra-Kolumne.

     

    Meinhard Schröder

  • P
    petronius

    an alex:

     

    "Wenn an dieser Stelle ein deutscher Kommentator von seinen Weihnachtserinnerungen berichtet hätte (mit Lametta, Flötentröten und seligen Grosseltern), dann hätte wohl kein Hanh danach gekräht"

     

    doch, ich glaube schon. man hätte sich gefragt, was daran von solcher allgemeiner relevanz sein sollte, daß dafür wertvoller platz in einer zeitung gepfert wird, welchen diese auch mit berichten von echtem nachrichtenwert hätte füllen können

     

    "Es handelt sich um Erinnerungen, es werden ein Festtag und die Verwandschaft becshrieben, es wird etwas sentimentalisiert und geschmunzelt. Fein"

     

    da hörts aber nicht auf. all dies ist schließlich nur vorgeplänkel, um die schlußpointe einzuleiten - die dann ja auch so ausfällt, wie man von dieser autorin bzw. ihrer kolumne erwarten darf

  • P
    petronius

    an steffi:

     

    sie meinen " Im Gegenteil wäre Kübra doch mal ein Gegenbeispiel zu den "Halbstarken", auf die sie so eine Wut haben"

     

    oder auch nicht. beiden (den sich weniger elegant artikulierenden halbstarken wie der eloquenten kopftuchträgerin) ist es ein anliegen, ihr anderssein herauszustellen, sich also abzugrenzen - jedeR halt mit seinen/ihren eigenen mitteln

     

    wie weit dies nun wieder eine reaktion auf ab- und ausgrenzung seitens der deutschen mehrheitsgesellschaft ist, wäre sicherlich der rede wert (und ist die mangelnde integrationsbereitschaft auf deutscher seite ja keineswegs wegzuleugnen) - ändert aber nichts daran, daß hier eine im grunde gleiche gegenreaktion seitens der sich nicht angenommen fühlenden vorliegt

  • C
    Calimero

    "Am Morgen des Festes aber liefen wir voller Energie durch die Wohnung meiner Großeltern und küssten die Hände der Erwachsenen, ein Zeichen des Respekts. Dafür gab es dann Kleingeld und Süßigkeiten."

     

    Für mich drückt das die Widersprüche dieser Kolumnen ganz gut aus. Einerseits möchte die taz hier wohl löblicherweise ein migrantisches Fenster öffnen und den Blick in einen anderen Alltag zulassen aber quasi durch die Hintertür wird - im Multikulti-Mäntelchen - zutiefst anti-emanzipatorisches und konservatives Gedankengut mitgeschickt.

     

    Mir stösst das auf. Ich bin froh, das ich in einer Generation aufwachsen durfte denen die 68er einige Türen öffnen konnten und dass Tradition und Patriarchat in meiner Familie keine Rolle (mehr) gespielt hat.

     

    Wenn Frau Yücel Kopftuch, Religion und die Werte ihres Grossvaters toll findet, bitte sehr, aber in einer linken Zeitung hat das nichts verloren. Warum nicht eine Kolumne einer aufgeklärten Frau mit Migrationshintergrund? Warum dieses konservative Geschribbsel? Nur um die PI Fraktion aufzuwallen? Mich wallt das auch auf - aus oben beschriebenen Gründen.

  • A
    Anonym

    Und noch ein schon geschriebener, wohl durchdachter, wesentliche Themen reflektierender Artikel von Kübra Yücel! Ich finde es einfach nur toll, dass es das gibt - eine solche Kolumne in der taz, bravo!!

  • P
    Petra

    Vielen Dank für Ihre Kolummnen, Frau Yücel! Auf Ihre Beiträge freue ich mich immer wieder. Ihre Momentaufnahmen deuten vieles nur subtil an und bringen mich, und bestimmt auch andere LeserInnen, zum Nachdenken. Mehr davon!

  • A
    alex

    Also wirklich.

     

    Wenn an dieser Stelle ein deutscher Kommentator von seinen Weihnachtserinnerungen berichtet hätte (mit Lametta, Flötentröten und seligen Grosseltern), dann hätte wohl kein Hanh danach gekräht.

     

    Ich bin immer wieder erstaunt über die Leserkommentare der vermeintlich "linken Leserschaft". Solche Kommentare bekommt man hier bei uns (im Ruhrgebiet) nämlich bevorzugt von den "Sozialen Nationalisten" und den "Vattern und Muttern" aus er Vorstadt zu hören ...

     

    Es handelt sich um Erinnerungen, es werden ein Festtag und die Verwandschaft becshrieben, es wird etwas sentimentalisiert und geschmunzelt. Fein.

    Die hier hinterlassenen Kommentare machen mal wieder deutlich, das anscheinend die Mehrheit noch immer nicht begriffen hat, dass die sogenannten Migranten hier seit einigen Jahrzenhten unsere Mitbürger sind.Und das wir und dieses Land ebenso Teil ihrer kulturellen Identität sind, wie sie der unsrigen.

     

    Tja Leute, ansonsten gehen mir die Kommentare hier ziemlich auf den Sack den ich nicht habe.

  • U
    Ulli

    Schöner Artikel, habe ihn mit Vergnügen gelesen. Was ich aber nicht über alle der anschließenden Kommentare sagen kann. Wußte gar nicht, dass solche Dumpfbacken taz lesen.

    Ich finde es auch gut, dass ich Artikel von Frauen mit Kopftuch in der taz lesen kann, obwohl ich kein absolut entspanntes Verhältnis zu dem Kopftuch als religiöses Symbol habe.

  • F
    Fantomas

    Jaja, Frau Yücel, und wieder sind die bösen Deutschen schuld, die die lieben Türken per se ablehnen. So einfach ist es leider, leider nicht... Vielleicht mal etwas mehr Bereitschaft zur Selbstkritik üben?

  • J
    Jakob

    Basti, PaulchenPanzer und Krusty habt ihr drei auch so nen hässlichen deutschen Bierbauch?!

  • S
    Steffi

    Jetzt das Klimaargument rauszuholen, liebes Paulchen Panzer, ist ja wohl mehr als heuchlerisch. Das hat doch mit dem Thema nichts zu tun.

    Kübra, ich finde es immer wieder schön, deine Texte zu lesen. Reaktionen wie von Basti zeugen einfach nur von einem Frust, die er auf sein rationales Denken kanalisiert. Aber Basti: Im Gegenteil wäre Kübra doch mal ein Gegenbeispiel zu den "Halbstarken", auf die sie so eine Wut haben. Warum kanalisieren Sie Ihren Frust auch auf sie? Da liegt aus meiner Sicht auch ein gesellschaftlicher Hund begraben. 2/3 der Deutschtürken, die in Deutschland ein Studium abschließen, gehen danach in die Türkei. Auch wenn sie qualifiziert sind und dem Klischee des faulen Hartz4-Migranten widersprechen wird Ihnen Missgunst entgegengebracht. Ich weiß von einer namhaften Firma, die Bewerber trotz gleicher Qualifikation wegen ihres türkischen Nachnamens nicht zum Vorstellungsgespräch (!) einlädt. Und das nur, weil sie genau das gleiche praktizieren wie sie: Die Wut, die man hat, auf Leute zu projezieren, die dem überhaupt nicht entsprechen. Das ist in höchstem Maße ungerecht.

     

    Interessanter Radiobeitrag dazu:

    http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5141204

  • G
    Georg

    Vielen Dank für diesen Artikel. Ich fand ihn äußerst kurzweilig und schön geschrieben. Und natürlich kenne auch ich die beschriebenen Szenen - ohne Migrationshintergrund. Was aber fehlt, und darum lohnt sich der Artikel, sind die Konflikte, die im zweiten Teil beschrieben werden.

     

    Zu meinen vorherigen Kommentatoren (sind es eigentlich mehrere, oder ein und derselbe?): Ich finde die Kommentare lächerlich. Ich kann weder einen Vorwurf der Verfasserin herauslesen, noch erscheint mir der Einwurf im Zusammenhang mit dem Klima sinnvoll. Aber jedem das seine.

  • B
    basti

    wieviel solcher mitleidsartikel soll ich mir eigentlich noch zumuten?

     

    sobald ich die vollverschleierten und halbstarken vor meiner tür sehe, die meinen auch in der 3. und 4. generation noch türkisch, oder zumindest, was davon noch übrig ist, das hör ich als deutscher inzwischen schon raus, reden müssen als zeichen des "nicht-dazu-gehören-wollen", sind die tränen ganz schnell getrocknet ;)

  • P
    PaulchenPanzer

    ...und Ihnen ist das nicht peinlich hier zu schreiben,daß die Großeltern mit schöner Regelmäßigkeit halbjährlich zu Klimakillern werden?

    Ich denke mal sie werden fliegen,denn die Eisenbahn ist für soooo alte Leute sicherlich zu anstrengend.

    Es gibt einfach Geschichten die die Welt nicht braucht.Diese gehört dazu!

  • K
    Krusty

    Wie immer! Die DEUTSCHEN sind schuld am Leid dieser Welt - Laaaangeweilig!