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Kolumne Das SchlaglochMitleid mit der armen Sau

Kommentar von Hilal Sezgin

Warum berührt uns das Leid von Tieren erst, wenn es für uns sichtbar wird? Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung finden unter weitestgehender Abschottung nach außen statt.

V ergangene Woche, im Radio, bekam man die Geschichte eines Schweins zu hören. Einer Sau auf dem Weg zum Schlachter; irgendwie entkam sie dem Transporter bei der Auffahrt zur Autobahn. Die Polizei wurde alarmiert, und laut Radiomeldung halfen unheimlich viele "hilfsbereite" Menschen dabei, die Sau wieder einzufangen. Ein Landwirt verstellte ihr mit seinem Traktor den Weg, in ihrer Angst biss sie einen der Helfer, und am Abend landete sie doch noch beim Schlachter.

Der Radiomoderator erzählte diese Geschichte halb launig, halb bedauernd. Seine Loyalität gelte der tapferen Sau, sagte er, sie sei seine eigentliche Heldin. Vermutlich haben viele Hörer so gedacht, vielleicht sogar einige der Helfer. Doch wenn man jemanden – und seis "nur" ein Tier –, der vor seinem sicheren Tod auf der Flucht ist, wieder einfangen hilft: Ist das wirklich Hilfsbereitschaft? Ich könnte mir vorstellen, dass es auch manchen Helfern leidtat zu wissen, wo die Flüchtende enden würde. Vielleicht haben sie sich sogar zugeredet, sie seien verpflichtet zu helfen, weil das Schwein sonst auf die Autobahn hätte rennen können. Eine Gefahr für die Menschen in den Autos und eine Gefahr für sich selbst; überfahren zu werden, ist schließlich auch kein schöner Tod.

Kann man sich aber vorstellen, dass sich die Umstehenden gar nicht von der Todesangst des Tiers anrühren ließen? Einige ließ sie vielleicht kalt, aber die Mehrheit: kaum. Jeder von uns, auch der Landwirt, der Fleischesser oder viele Metzger kennen die Angst und den Schmerz beim Tier. Bloß konsequent sind wir Menschen hier – wie bei vielem anderen – halt nicht.

Bild: privat

Hilal Sezgin lebt als Publizistin in der Lüneburger Heide. Mit dem ägyptischen Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid veröffentlichte sie 2008 das Buch "Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam". In ihrer letzten Kolumne schrieb sie über Krieg und Sex in Irak und Afghanistan.

Zwei Ereignisse haben in den letzten Wochen engagierte Tierfreunde weltweit dazu bewogen, Protestmails abzuschicken. In Indien wurde – wie alle fünf Jahre – das Opferfest für die Göttin Gadhimai gefeiert. Dabei wurden geschätzte 300.000 Büffel, Schafe, Ziegen und Vögel geschlachtet. In hiesigen Zeitungen sah man Fotos, wie ein Büffel am Strick geführt wurde und ein weiterer an einem Pfahl stand, der Schlachter holte schon mit dem Messer aus.

Barbarisch kamen einem diese Szenen vor. Aber mal ehrlich: Ist es nicht schonender, ein Tier am gewohnten Strick eine kleine Strecke gehen zu lassen, als es in Transporter zu treiben und tagelang über Land zu fahren – in einer Enge, die zu blutigen Verletzungen und Knochenbrüchen führt? Auf unseren Autobahnen sehen wir manchmal Schweinetransporter, hinten sind grinsende Schweine draufgemalt. Von den Tieren selbst sieht man nur Rüssel und Augen, die durch die Lüftungsschlitze schauen. Den Prozess des Massenschlachtens, der etwa 50 Millionen Schweine allein in Deutschland betrifft, sieht man nicht.

Ende November feierten schließlich auch die Muslime ihr Opferfest. Traditionell bekommen dabei Schafe und Rinder unbetäubt die Kehle durchschnitten. Jedes Jahr laufen hiesige Tierschutzvereine Sturm gegen dieses Töten, das in religiösen Fällen ausnahmsweise auch in Deutschland genehmigt ist. Dabei ist unter Tierschutzgesichtspunkten der Akt des Schächtens selbst, korrekt ausgeführt, vermutlich das geringste Problem. Wichtiger ist: Wie lebten diese Tiere vorher? Wie wurden sie zu ihrem Schlachtplatz gebracht? Immer wieder werden Schafe in Kofferräumen transportiert und stehen dann, oft ohne Futter oder Wasser, ihre letzten Lebenstage in Garagen herum.

Solche Tierquälerei ist natürlich nicht erlaubt – und zwar weder nach deutschem Gesetz noch nach der muslimischen Ethik. Gut genährt und qualfrei sollte das Opfertier, folgt man den religiösen Bestimmungen der Scharia, zu Tode gebracht werden. Wer die Tradition der Scharia dazu genauer kennt, weiß: Das Schächten nach islamischem Ritual ist klaren ethischen Regeln unterworfen. Ein Tier sollte vor der Schlachtung beruhigt werden und nicht das Blut anderer Tiere sehen, um ihm vor seinem Ende möglichst jede Todesangst zu ersparen.

Selbstredend stehen diese ethischen Bestimmungen nicht in vorderster Reihe dessen, was Muslime weltweit als ihre Glaubensinhalte gelehrt und gepredigt bekommen. Dennoch, in Europa gibt der hier ständig wachsende Helal-Markt Grund zur Hoffnung: Noch zaghaft, aber immer öfter werden nämlich die Stimmen muslimischer Theologen laut, die bezweifeln, ob Helal-Fleisch wirklich helal sein könne, so lange es aus qualvoller Massentierhaltung stammt, wie sie in Europa nun einmal, diesbezüglich nicht zimperlicher als der Rest der Welt, üblich ist. Ein tierfreundliches Helal-Siegel, dessen Bestimmungen deutlich strenger wären als das, was Biolabels bisher vermeintlich guten Gewissens verkaufen – kann das nicht mehr sein als ein frommer Wunsch?

Das Gros der Nichthindus und Nichtmuslime jedenfalls, die sich über die genannten Opferfeste empören, isst ohnehin selber Fleisch, hat deswegen kein schlechtes Gewissen und nimmt eigentlich weniger Anstoß an dem Umstand des Tötens selbst als an dessen Sichtbarkeit. Unter industrialisierten Bedingungen haben Züchtung, Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung an Grausamkeit zugelegt, finden aber unter weitestgehender Abschottung nach außen statt.

Nur die Effizienz fabrikähnlicher Prozesse ermöglicht den Angehörigen der Industrienationen, so viel tierische Nahrung zu produzieren wie derzeit – und zu einem so niedrigen Preis. Fleisch und Käse sind ja erst jüngst zu so selbstverständlichen, preiswerten, in rauen Mengen verzehrten Nahrungsmitteln geworden. Doch nur die Unsichtbarkeit des Leids der weggeschlossenen Rinder, Schweine und Hühner ermöglicht es andererseits, sie mit halbwegs ruhigem Gewissen auch zu konsumieren.

Oft habe ich erlebt, dass Fleisch-, Eier- oder Milchkonsumenten, wenn sie einen entsprechenden Betrieb gesehen hatten, dessen Produkte nicht mehr verzehren wollten. Stattdessen kauften sie sie woanders und redeten sich ein, es gehe dort bestimmt besser zu! Menschlich ist solche Inkonsequenz allemal. Aber sollte man nicht einen Moment innehalten, bevor man zu der Wettermeldung und den Charts übergeht, und den eigenen Speiseplan nicht zumindest einmal kurz überdenken, wenn einen die Meldung von einem flüchtigen Schwein in Todesangst berührt?

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

8 Kommentare

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  • A
    Antonietta

    Größer - schneller - billiger:

    Unter diesem Motto der Agrarindustrie leiden heute rund 150 Mill. Nutztiere in deutschen Ställen. Ob Schwein, Rind, oder Legehenne, ob Pute, Kaninchen oder Ente - sie werden verstümmelt, in enge Ställe oder Käfige gepfercht und mit Medikamenten vollgepumpt. Auf der Strecke bleiben nicht nur das Wohl der Tiere und ihre artgemäße Haltung, sondern auch Qualität, Geschmack und die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Produkte.

     

    Mediziner warnen seit Jahren die Verbraucher vor Medikamentenanreicherungen in Fleisch, Milchprodukten und Eiern. Es gilt als gesichert, daß Antibiotikaanreicherungen im Fleisch, speziell im Schweinefleisch, die Hauptursache für die hochbrisante Antibiotikaresistenz beim Menschen sind. Immer mehr Menschen sprechen selbst auf hohe Antibiotikadosen nicht mehr an.

  • A
    Amos

    Macht euch die Erde untertan!? Von welchem Vollidioten stammt dieser Spruch eigentlich?

  • ST
    Saskia Thurau

    Auch ich möchte mich für diesen Artikel bedanken! Ich habe mir als große Tierliebhaberin einerseits und als angehende Islamwissenschaftlerin andererseits auch schon öfter darüber Gedanken gemacht, wie eine solche (zunächst unvereinbar erscheinende) Überschneidung dieser beiden Interessen, nämlich des Schächtens (vor allem auch am Opferfest) und der absoluten Vermeidung jeglicher Tierquälerei, zu vereinbaren sind.

     

    Und mit diesem Artikel haben Sie mir aus tiefstem Herzen gesprochen und mich darin bestätigt, dass die Scharia keinesfalls weniger Barmherzigkeit unseren vierbeinigen Mitlebewesen gegenüber fordert, als das deutsche Tierschutzgesetz.

    Denn wie schon so oft handelt es sich meiner Meinung nach dann bei dem tatsächlichen Verhalten der "Schlächter" vor und während der Schlachtung - sowohl unter Muslimen beim Opfern als auch in den Schlachthäusern der Bundesrepublik bei der täglichen Fleischproduktion - um eine reine Auslegungssache der schriftlichen Vorgaben.

     

    Deshalb an dieser Stelle noch einmal ein Lob an Sie, dass Sie dieses Problematik in einer sehr lesenswerten Weise herausstellen und so vielleicht das ein oder andere Herz oder Hirn anregen können.

  • KU
    Karin Ulich

    Liebe Frau Sezgin,

     

    herzlich möchte ich Ihnen für diesem Kommentar danken - und Ihnen dazu gratulieren!

    Sie haben die wesentlichen Punkte unserer kollektiven Blindheit, verursacht durch Selbstbetrug, dargelegt und auf den Punkt gebracht.

    Ihr Text erschüttert und gibt zugleich Mut: Sie werden Herzen bewegen, Sie werden den einen oder anderen motivieren, rechtzeitig seinen christlichen Weihnachtsschmaus zu überdenken: standen Ochs und Esel als Vertreter aus dem Tierreich wirklich an der Krippe, in der Jesus lag, um zu demonstrieren, dass sie parat für den Teller stets verfügbar sind, ja, lebenslang eingesargt dahin siechen, für die, welche das Fest der Liebe begehen?

    Gerade Weihnachten spielen sich die grausigsten Todesangst- und Qual-Orgien ab - und die meisten Fest-Esser blenden das erfolgreich aus.

  • EP
    Elisabeth Petras

    Auch ich bedanke mich für den guten Kommentar. Muslime und Christen haben beide in ihrer Religion den Anspruch, mit der Schöpfung achtsam umzugehen, weil sie das Werk unseres Gottes ist. Und weil Gott barmherzig ist, Jesus die Barmherzigkeit in seiner Bergpredigt rühmt und Gott/Allah auch der Allbarmherzige genannt wird. Eine gut bezeugte Hadithe weist ebenfalls darauf hin, dass Bermherzigkeit gegenüber Tieren von Gott/Allah belohnt wird. Es gehört zu unseren zentralen Glaubensaussagen, dass Gott der Schöpfer aleln Lebens ist, wei auch im "Common word" der 138 islamischen Glaubensführer an die Glaubenleiter des Christentums zum Ausdruck kommt. Wir alle müssen bekennen: Wir machen ganz viel falsch. Und bitte gemeinsam neue Wege suchen - das wäre schön, sinnvoll - und Not-wendig!!!!!!!

  • R
    Rojas

    Es ist jedenfalls bestimmt sehr viel moralischer, ein Tier zu töten, weil man sein Fleisch essen will, als es zu töten, weil man in abergläubischer Verblendung irgendeiner obskuren "Gottheit opfern" will.

     

    Siehe auch:

     

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18700544.html

     

    Aber vielleicht kann ja Hilal Sezgin eine Richtung des Islams begründen, bei dem zum Opferfest z.B. Wassermelonen anstatt Tiere geopfert werden.

  • AZ
    Andreas Zabe

    Das freut mich sehr, dass dieser Kommentar als Top-Thema ganz oben steht. Wie zurückhaltend und leise die Autorin auf schreiende Missstände hinweist ist beeindruckend. Ich denke, dass sie so wirklich etwas bewirken kann. Dass immer mehr Menschen erkennen, was wir den Tieren antun, die immerhin fühlende Mitgeschöpfe sind. Danke für diesen Artikel. Davon sollten mehr und diese breiter publiziert werden.

  • H
    Hallo

    Sehr gutes Artikel! Die Gegenüberstellung des religiös motivierten Schlachten einerseits und die Tierquälerei andererseits in den hiesigen Staaten gelang ihnen gut. Lobenswert ist vor allem die positive Darstellung des islamische Lehre über das Schächten, die weit entfernt von Tierquälerei ist.