Kolumne Das Schlagloch: Mitleid mit der armen Sau

Warum berührt uns das Leid von Tieren erst, wenn es für uns sichtbar wird? Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung finden unter weitestgehender Abschottung nach außen statt.

Vergangene Woche, im Radio, bekam man die Geschichte eines Schweins zu hören. Einer Sau auf dem Weg zum Schlachter; irgendwie entkam sie dem Transporter bei der Auffahrt zur Autobahn. Die Polizei wurde alarmiert, und laut Radiomeldung halfen unheimlich viele "hilfsbereite" Menschen dabei, die Sau wieder einzufangen. Ein Landwirt verstellte ihr mit seinem Traktor den Weg, in ihrer Angst biss sie einen der Helfer, und am Abend landete sie doch noch beim Schlachter.

Der Radiomoderator erzählte diese Geschichte halb launig, halb bedauernd. Seine Loyalität gelte der tapferen Sau, sagte er, sie sei seine eigentliche Heldin. Vermutlich haben viele Hörer so gedacht, vielleicht sogar einige der Helfer. Doch wenn man jemanden – und seis "nur" ein Tier –, der vor seinem sicheren Tod auf der Flucht ist, wieder einfangen hilft: Ist das wirklich Hilfsbereitschaft? Ich könnte mir vorstellen, dass es auch manchen Helfern leidtat zu wissen, wo die Flüchtende enden würde. Vielleicht haben sie sich sogar zugeredet, sie seien verpflichtet zu helfen, weil das Schwein sonst auf die Autobahn hätte rennen können. Eine Gefahr für die Menschen in den Autos und eine Gefahr für sich selbst; überfahren zu werden, ist schließlich auch kein schöner Tod.

Kann man sich aber vorstellen, dass sich die Umstehenden gar nicht von der Todesangst des Tiers anrühren ließen? Einige ließ sie vielleicht kalt, aber die Mehrheit: kaum. Jeder von uns, auch der Landwirt, der Fleischesser oder viele Metzger kennen die Angst und den Schmerz beim Tier. Bloß konsequent sind wir Menschen hier – wie bei vielem anderen – halt nicht.

Zwei Ereignisse haben in den letzten Wochen engagierte Tierfreunde weltweit dazu bewogen, Protestmails abzuschicken. In Indien wurde – wie alle fünf Jahre – das Opferfest für die Göttin Gadhimai gefeiert. Dabei wurden geschätzte 300.000 Büffel, Schafe, Ziegen und Vögel geschlachtet. In hiesigen Zeitungen sah man Fotos, wie ein Büffel am Strick geführt wurde und ein weiterer an einem Pfahl stand, der Schlachter holte schon mit dem Messer aus.

Barbarisch kamen einem diese Szenen vor. Aber mal ehrlich: Ist es nicht schonender, ein Tier am gewohnten Strick eine kleine Strecke gehen zu lassen, als es in Transporter zu treiben und tagelang über Land zu fahren – in einer Enge, die zu blutigen Verletzungen und Knochenbrüchen führt? Auf unseren Autobahnen sehen wir manchmal Schweinetransporter, hinten sind grinsende Schweine draufgemalt. Von den Tieren selbst sieht man nur Rüssel und Augen, die durch die Lüftungsschlitze schauen. Den Prozess des Massenschlachtens, der etwa 50 Millionen Schweine allein in Deutschland betrifft, sieht man nicht.

Ende November feierten schließlich auch die Muslime ihr Opferfest. Traditionell bekommen dabei Schafe und Rinder unbetäubt die Kehle durchschnitten. Jedes Jahr laufen hiesige Tierschutzvereine Sturm gegen dieses Töten, das in religiösen Fällen ausnahmsweise auch in Deutschland genehmigt ist. Dabei ist unter Tierschutzgesichtspunkten der Akt des Schächtens selbst, korrekt ausgeführt, vermutlich das geringste Problem. Wichtiger ist: Wie lebten diese Tiere vorher? Wie wurden sie zu ihrem Schlachtplatz gebracht? Immer wieder werden Schafe in Kofferräumen transportiert und stehen dann, oft ohne Futter oder Wasser, ihre letzten Lebenstage in Garagen herum.

Solche Tierquälerei ist natürlich nicht erlaubt – und zwar weder nach deutschem Gesetz noch nach der muslimischen Ethik. Gut genährt und qualfrei sollte das Opfertier, folgt man den religiösen Bestimmungen der Scharia, zu Tode gebracht werden. Wer die Tradition der Scharia dazu genauer kennt, weiß: Das Schächten nach islamischem Ritual ist klaren ethischen Regeln unterworfen. Ein Tier sollte vor der Schlachtung beruhigt werden und nicht das Blut anderer Tiere sehen, um ihm vor seinem Ende möglichst jede Todesangst zu ersparen.

Selbstredend stehen diese ethischen Bestimmungen nicht in vorderster Reihe dessen, was Muslime weltweit als ihre Glaubensinhalte gelehrt und gepredigt bekommen. Dennoch, in Europa gibt der hier ständig wachsende Helal-Markt Grund zur Hoffnung: Noch zaghaft, aber immer öfter werden nämlich die Stimmen muslimischer Theologen laut, die bezweifeln, ob Helal-Fleisch wirklich helal sein könne, so lange es aus qualvoller Massentierhaltung stammt, wie sie in Europa nun einmal, diesbezüglich nicht zimperlicher als der Rest der Welt, üblich ist. Ein tierfreundliches Helal-Siegel, dessen Bestimmungen deutlich strenger wären als das, was Biolabels bisher vermeintlich guten Gewissens verkaufen – kann das nicht mehr sein als ein frommer Wunsch?

Das Gros der Nichthindus und Nichtmuslime jedenfalls, die sich über die genannten Opferfeste empören, isst ohnehin selber Fleisch, hat deswegen kein schlechtes Gewissen und nimmt eigentlich weniger Anstoß an dem Umstand des Tötens selbst als an dessen Sichtbarkeit. Unter industrialisierten Bedingungen haben Züchtung, Aufzucht, Mast, Transport und Schlachtung an Grausamkeit zugelegt, finden aber unter weitestgehender Abschottung nach außen statt.

Nur die Effizienz fabrikähnlicher Prozesse ermöglicht den Angehörigen der Industrienationen, so viel tierische Nahrung zu produzieren wie derzeit – und zu einem so niedrigen Preis. Fleisch und Käse sind ja erst jüngst zu so selbstverständlichen, preiswerten, in rauen Mengen verzehrten Nahrungsmitteln geworden. Doch nur die Unsichtbarkeit des Leids der weggeschlossenen Rinder, Schweine und Hühner ermöglicht es andererseits, sie mit halbwegs ruhigem Gewissen auch zu konsumieren.

Oft habe ich erlebt, dass Fleisch-, Eier- oder Milchkonsumenten, wenn sie einen entsprechenden Betrieb gesehen hatten, dessen Produkte nicht mehr verzehren wollten. Stattdessen kauften sie sie woanders und redeten sich ein, es gehe dort bestimmt besser zu! Menschlich ist solche Inkonsequenz allemal. Aber sollte man nicht einen Moment innehalten, bevor man zu der Wettermeldung und den Charts übergeht, und den eigenen Speiseplan nicht zumindest einmal kurz überdenken, wenn einen die Meldung von einem flüchtigen Schwein in Todesangst berührt?

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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