Kolumne Das Schlagloch: Der Glaube ans 20. Jahrhundert
Die Regierung will einfach nicht wahrhaben, dass die Zeit der Großtechnologien vorbei ist.
O hne "sauberen Atomstrom" wird es nicht gehen. Sagen Eon und Vattenfall in ihrer "Vision 2050". Sagt auch Ian McEwan, der britische Schriftsteller und Klima-Aktivist. Der Grund: Wir "westlichen Menschen" ähnelten dem Helden seines Romans "Solar", einem lau, kraftlos und fett gewordenen Nobelpreisträger und seien eher an Rindfleisch, billigen Textilien und EasyJet interessiert als an einer Zukunft, in der wir nicht mehr leben werden.
Nun, demoskopisch gesehen, wollen wir westlichen Menschen, jedenfalls wir neun Zehntel der Deutschen, gleichwohl einen schnelleren und kompromissloseren Übergang zu erneuerbaren Energien. Wenn es ans Handeln geht oder ans Bezahlen gar, siehts um die Nachhaltigkeit allerdings nicht so nachhaltig aus. Für solche Fälle hatten wir westliche Menschen ein Instrument entwickelt, das erkannte Notwendigkeiten durchsetzt, auch gegen wankendes Wollen. Gute Staaten, gute Regierungen und gute Gesetze sind, so hat es George Orwell bemerkt, wie ein Wecker. Auch der setzt ja unseren nachhaltigen Wunsch, rechtzeitig aufzustehen, gegen unsere morgendliche Trägheit durch.
Selbst McKinsey weiß es besser
Das "Energiekonzept" der Bundesregierung ist ein Dokument des Ausstiegs aus solch alteuropäischem Politikverständnis. Und das nicht nur, weil es den Atom- und Kohlekonzernen auf Jahrzehnte hinaus Zusatzprofite beschert. Unter der Parole "Heranführung an den Markt" bremst es die Weiterentwicklung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Es gibt Bestandsversprechungen für die dreckige Braunkohle. Die Verpflichtung von Hausbesitzern, in Wärmedämmung zu investieren, wurde lobbybedingt ebenso gestrichen wie die der Automobilkonzerne auf schnelle Konversion der Motoren und der Energiekonzerne auf die Stilllegung emissionsintensiver Altkraftwerke. Das betriebswirtschaftliche "Wirtschaftlichkeitsgebot" hat allenthalben Vorfahrt.
Niemand bezweifelt mehr die Klimakrise. Auch die Energiekonzerne bekennen sich zu grünem Strom - allerdings auf ihre Weise, und das heißt: Die Erneuerbaren sollen in die Struktur der überkommenen oligopolistischen Netze gepresst werden. Das geht nur, wenn man ihren Ausbau so lange bremst, bis Mammutprojekte wie Desertec (Wüstenstrom) oder Seatec (Nordsee-Wind) und neue, transnationale Stromnetze (Super Grid) die Konzernhoheit ins Solarzeitalter rettet. Das ist, neben der Profitschwemme, der zweite ökonomische Sinn der Laufzeitverlängerung.
Die Fehlerliste ist lang
Energiestrategien sind kompliziert: Ökonomische, ökologische, technische und Systemfragen sind aufs Verwirrendste verknäult. So konnte es geschehen, dass die in all diesen Aspekten problematische Desertec-Idee sogar von Greenpeace bejubelt wird, obwohl ein Ausbau der Windenergie nur im bisherigen Tempo schneller, billiger und sicherer dieselbe Strommenge brächte. So setzt die Regierung massiv auf die CO2-Abscheidung in Kohlegroßkraftwerken (CCS), obwohl die einzige europäische Pilotanlage wegen Unwirtschaftlichkeit aufgegeben wurde und die Entsorgung so desaströs sein könnte wie der Atommüll - wer kann sich 34 Kubikkilometer unterirdischen Stauraum allein in Deutschland vorstellen? Die Liste drohender Sackgassen lässt sich fortsetzen, deshalb ist es gut, dass in derselben Woche, in der die Regierung ihre systemkonservative Strategie vorlegt, eine "Navigationshilfe" zur Hand ist.
Hermann Scheer hat sie vorgelegt, auch er ein Nobelpreisträger, ein alternativer allerdings, und der Vorkämpfer des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, das Deutschland zum Vorreiter machte. "100 Prozent jetzt" fordert sein Buch über den "Energetischen Imperativ". Scheer zeigt systematisch und empirisch, wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien bis 2050 (oder schon davor) zu realisieren wäre. Nicht durch globalen Emissionshandel, der nach Kopenhagen in den Sternen steht, sondern - wie immer in technischen Revolutionen - durch das forcierte Tempo von Pionieren. Und auch nicht mit fossilen "Brückentechnologien", die den schnellen Ausbau der Erneuerbaren auf Jahrzehnte hinaus blockieren, wie Umweltbundesamt und Umweltrat die Regierung warnen, weil zentralistische fossile und dezentrale erneuerbare Energien letztlich unvereinbaren Logiken folgen.
Die Notwendigkeit des Systembruchs, die horrenden politischen und technologischen und politischen Risiken der Großtechnologien, ihre Unverträglichkeit mit den Zielen globaler Gerechtigkeit, einer wachstumsbefriedeten Gesellschaft und der Atomabrüstung sind belegbar und berechenbar.
Fossiler Cäsarismus
Warum nun lassen die Regierung die mit der blockierten Energiewende einhergehenden und vielfach dokumentierten Gefahren so kalt? Es ist - wenn wir nicht die diabolische Variante der von Lobbys unterwanderten Politik wählen - der tiefsitzende Glaube des 20. Jahrhunderts an großtechnische Lösungen und an die unbefragbare Kompetenz der bestehenden Energieunternehmen, die höher ist als alle Vernunft von Wissenschaftlerbeiräten, Umweltbundesämtern und McKinsey. Das "Energiekonzept" der Regierung exekutiert diesen Glauben mit Deals zwischen Konzernen und Exekutive nebst einem nachgelagerten "Bürgerdialog" über die "Frage, wie wir leben wollen". Fossiler Cäsarismus mit virtueller Massenakklamation und parlamentarischem Abnicken, und das in einer Frage, die nicht nur den Strompreis, sondern die Lebensform betrifft.
Neue Produktivkräfte, um es in klassischen Worten zu sagen, sprengen die alten Produktionsverhältnisse, aber sie tun es nicht von selbst. Soziale Bewegungen und Politiker müssen sie durchsetzen. 100 Prozent Erneuerbare 2050 sind möglich. Und sie sind nötig. Aber sie werden nicht von selbst kommen. So gesehen ist der größte Energiemangel, den wir zu beklagen haben, derjenige, der uns "westliche Menschen" daran hindert, die Qualität unserer Abgeordneten nachhaltig zu erneuern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland