Kolumne Blagen: Gedanken zu zweitklassigen Männern
Nur ganz leise, meinem Status angemessen, habe ich "Wahnsinn!" gemurmelt, als ich die Bilder vom Kairoer Tahrir-Platz sah.
I st es Zeit, zu gehen? Ich meine, das muss doch wirklich nicht sein: an so einer lausigen Kolumne kleben. Taub gegen jede Kritik, blind für das Offensichtliche. Leuten wie mir, die nicht merken, dass ihre Zeit abgelaufen ist, denen sollte man mal die Ohren ausputzen, dann lang ziehen und ihnen anschließend die Wahrheit hineinbrüllen. Dann erst hat unsereins verstanden.
In diesem Sinne an dieser Stelle ein Dank an jenen Leser, der mir nach meiner letzten Kolumne schrieb, dass ja "inzwischen jedeR mitbekommen hat", dass ich "ex-bewohnerin des arbeiter- und bauernstaates" sei, und dass ich mir meinen "ideologischen hass auf kapitalistenschweine und ihre brut" mal sonst wo hinstecken könne. Was der freundliche Leser damit meint? Nun, es ging um das Thema Austernverzehr bei Achtjährigen. Fürwahr, mich dazu zu äußern habe ich bei meiner tatsächlich so was von zweitklassigen Herkunft kein Recht. Wir hatten ja bekanntlich nichts. Nicht mal Austern. Danke also für diesen Hinweis.
Aus Gründen der Zweitklassigkeit werde ich es auch weiter still ertragen, von erstklassigen Zeitgenossen weiter Angie genannt zu werden. (Sie verstehen? Angie wie die Templiner Kanzlerin - Spitzenwitz!) Und ich werde nicht widersprechen, wenn in der Quotendiskussion die Vollbeschäftigung der Ostfrauen als zu vernachlässigendes Argument für gleichberechtigte Lebensentwürfe weggebissen wird - wo kämen wir hin, wenn fünf Millionen Frauen zweitklassiger Herkunft für irgendeine politische Idee stünden. So gehts wirklich nicht. Auch in dieser Hinsicht also noch mal: Danke.
Ich hatte ja fast vergessen, dass es vor, sagen wir, 15 bis 20 Jahren ein Ausweis besonderer historischer Lebenserfahrung war, aus dem Osten zu kommen. Wie geil das damals war, zu erleben, dass ein paar alte Männer von meinen zweitklassigen Landsleuten einfach rausgeworfen wurden. Und wie obergeil, als sie dann tatsächlich ihre Plätze räumten und die größte DDR der Welt den "kapitalistenschweinen" (Leser) überlassen mussten.
Nur ganz leise, meinem Status angemessen, habe ich deshalb "Wahnsinn!" gemurmelt, als ich Donnerstagnacht die Bilder vom Kairoer Tahrir-Platz sah: Menschen, die sich bei sechs Grad Celsius nicht nach Hause schicken ließen. Die nicht wussten, ob der alte Präsident den Abgang macht oder ob in der nächsten Minute Panzer anrollen. Ein sehr schöner, bewegender Moment. Da lass ich nix drauf kommen.
"Wahnsinn" - das war auch das Wort des Herbstes 89. Nicht "Helmut", nicht "Beate Uhse". Und "Angie" schon mal gar nicht. Das Bild der Menge, wie sie zusammensteht und sich keinen Scheiß mehr erzählen lassen will. Menschen, die Angst haben, aber so viele sind, dass sich das Risiko, verletzt zu werden, durch Tausende teilt. Das war groß. Und das war einen Hauch der Geschichte lang auch in Kairo so.
Als der alte Mann Donnerstagnacht noch ein bisschen zappelte, wusste ich, dass das nicht sein letztes Wort sein würde. So was hatte ich selbst mal erlebt, damals hieß er Erich, diesmal Husni. Fünf Buchstaben - die Namen zweitklassiger Männer. Die einfach nicht hören wollten. Und dann fühlen mussten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit