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Kokain-Container am MittelmeerDie Kathedrale der Mafia

Gioia Tauro ist der größte Containerhafen am Mittelmeer - und wird kontrolliert von der Mafia. Mit den Containern kommt die weiße und heiße Ware: das Kokain.

Seit 20 Minuten tönt die Alarmanlage. Ein Auto? Ein Haus? Der Chef der kleinen Bar lässt sich nicht stören beim Kaffeeservieren, am Rand der zentralen Piazza Matteotti im süditalienischen Hafenstädtchen Gioia Tauro. Er preist lieber die heimischen Kekse an. Marco schlürft den dritten Espresso dieses Vormittags. "Davon leben wir", sagt er zum Kaffee. "Wie Beirut", sagt er zu Gioia Tauro. Und lacht.

Marco ist ein stämmiger Römer mit rotem Bart. Aber er hat gar nichts Grimmiges an sich. Und doch gehören er und sein Partner Giuseppe - der mit Pilotenbrille, Reibeisenstimme und der ewigen Zigarette im Mundwinkel schon eher dem Klischee vom harten Spezialbullen entspricht - zu den ROS. ROS steht für "Raggruppamento Operativo Speciale", die Sondereinheit der italienischen Carabinieri zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens.

Den Großteil ihrer Arbeitstage verbringen die beiden hier in Gioia, etwa 50 Kilometer von der Regionalmetropole Reggio entfernt. Hier ermitteln sie, hier hören sie über Kopfhörer mit, wenn ein Mitglied des 'Ndrangheta-Clans - wie die Mafia Kalabriens heißt - gegenüber einem Politiker die Verhältnisse klarstellt: "Der Hafen von Gioia Tauro gehört uns! Wir leben hier, wir bleiben hier, uns gehört die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft."

Gioia Tauro ist eine Gemeinde, deren Kommunalregierung 1991 und 2008 wegen mafiöser Unterwanderung aufgelöst wurde. Der Hafen ist das größte Transshipmentcenter des Mittelmeers: also der wichtigste Umschlagort für Container, die von haushohen Überseefrachtern auf kleinere Schiffe, sogenannte "Feeder", umgeladen werden. In den 1990er Jahren erhob die 'Ndrangheta auf jeden umgeladenen Container eine Steuer von 1,5 Dollar - bis die Sache mit einem großem Skandal aufflog. Doch es gibt genügend andere Geschäftsmodelle: In den Kästen, die die Welt bewegen, reisen all die Dinge, nach denen es Europa verbotenerweise verlangt.

Zoll und Finanzpolizei beschlagnahmen jährlich im Mittelwert 60 Tonnen Markenzigaretten (gefälscht), 2 Millionen Stück Markenwaren (gefälscht), vor allem Spielzeug und Bekleidung, oft hochgiftig, wie zuletzt 100 Prozent über dem zulässigen Grenzwert mit Chrom belastete Schuhe. Die chinesische Mafia hatte für solche Waren einen Pakt mit den heimischen Kräften geschlossen, die ihnen einen sicheren Anlegeplatz bieten konnten. Im September 2010 fanden sich Container mit sieben Tonnen Sprengstoff - aus dem Iran angeblich auf dem Weg nach Syrien. Damit aber, sagen unisono alle Ermittler in der Region, habe die 'Ndrangheta nichts zu tun.

Aber es gibt ja das Kokain, immer noch Haupttreibmittel der globalen organisierten Kriminalität. Von November 2009 bis Ende 2010 wurden in Gioia 2 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Das Kilo kostet in den südamerikanischen Erzeugerländern geschätzt 1.000 Euro. Wenn es - verschnitten - in Europa auf den Markt kommt, ist es 200.000 Euro wert. Deswegen nennt es der Schriftsteller Roberto Saviano schlicht "die wunderbare Ware".

Es ist diese Struktur, es sind diese Zahlen, sagt Marco, die Gioia zu einem "strategischen Ort" im Kräftemessen von Staat und Mafia machen. Und das hat Geschichte: Anfang der 1970er Jahre fiel die Entscheidung, ausgerechnet in dieser einzigen großen und fruchtbaren Ebene der italienischen Stiefelspitze ein Stahlwerk samt Tiefwasserhafen zu errichten, um den Süden von Massenarbeitslosigkeit und Emigration zu erlösen. Alle waren dafür, vor allem aber die Mafia: Binnen weniger Stunden fällten die 'Ndranghetisti des Piromalli-Clans 400 Mandarinenbäume. 1979 wurde das Projekt zu den Akten gelegt: Europäischer Stahl - ob aus Italien oder Duisburg-Rheinhausen - war nicht mehr gefragt. Was blieb, war der Hafen.

Die zuvor agrarisch geprägte lokale Mafia hatte sich da längst fettgefressen an den Subventionen für Werk- und Straßenbau. Die Autobahn A3 Salerno-Reggio, die den Hafen vernetzen sollte, ist bis heute ein Witz. Jeder Abschnitt gehört einem anderen Clan, und bauen darf nur, wer Schutzgeld überweist, wie eine nicht abreißende Kette von Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaft Reggio belegt. Die natürlich einschreiten muss: Denn die Firmen aus dem Norden, die die Gebühr bezahlen, aber so gut wie nie Anzeige erstatten, verbauen ja Steuergelder. Ist ein Fall aufgedeckt, muss der Bauabschnitt neu ausgeschrieben werden. Und das kann dauern. Die A3, sagt die Staatsanwaltschaft Reggio, ist das längste Beweisstück Italiens.

Wenn Marco und Giuseppe die Autobahn verlassen und mit ihrem unauffälligen graublauen Fiat Punto in Gioia Tauro einfahren, landen sie auf einem gigantischen Parkplatz. Rund herum stehen Einkaufszentren. Manche sind geöffnet und einladend, andere im Bau oder im landestypischen Wir-schaffen-erst-mal-Fakten-Ruinenlook. Jedenfalls sind es viel zu viele für ein heruntergekommenes 20.000-Einwohner-Städtchen.

Hier wird das Geld verbaut, dessen kriminellem Ursprung und dessen zerstörerischer Wirkung nachzuspüren Marcos und Giuseppes Job ist. Observieren, abhören, festnehmen, verhören. Zusammenhänge herstellen - und viel warten: auf Haftbefehle, auf Informationen, vor allem auf Kronzeugen aus der 'Ndrangheta selbst. Denn ein am Ort A mitgeschnittenes Gespräch, erklärt Giuseppe, wird an den Orten B, C, fortgeführt und erst an Ort D sind die ROS wieder dabei. Ein Kronzeuge erzählt jedoch die ganze Geschichte.

Und es gibt sie - die, die "bereuen", die sogenannten "pentiti": Der Mythos der familiären Undurchdringlichkeit der 'Ndrangheta bröckelt. Es sei zwar zu früh, sagt Giuseppe, von einer Wende zu sprechen. Aber die Dinge sind in Bewegung, der Druck der Ermittlungsbehörden ist stetig gestiegen, seit 2008 ein Pool von Staatsanwälten aus Sizilien die Ermittlungen übernommen hat. Unter ihnen Michele Prestipino, dem an seinem früheren Einsatzort der mythische Boss der Cosa Nostra, Bernardo Provenzano, ins Netz ging.

"Das Hauptproblem des Clans ist: Wohin mit der ganzen Kohle, die über den Hafen hereinschwappt?", erklärt Giuseppe. "Sie haben so viel, sie können nicht alles woanders waschen oder vergraben, sie müssen auf Teufel komm raus investieren. Also pflastern sie ihr Gebiet mit diesen Zentren zu - ob sie nun gebraucht werden oder nicht, egal. Daran anschließend kommt der Teil des Ortes, der einigermaßen zivil aussieht. In Richtung Hafen wird es immer schäbiger, noch vor einem Monat standen die Häuser einen Meter hoch im Schlamm. Den Clan kümmert das nicht.

Dann kommt der Friedhof und schließlich das Industriegebiet des Hafens: Und genau, da ist nichts! Der größte Containerhafen des Mittelmeeres hat nichts, was man im Umfeld einer solchen Anlage doch erwarten würde: verarbeitende Industrie, Hotels, was weiß ich, ein Vergnügungspark! Nichts! Der Clan will keinen gesellschaftlichen Reichtum. Und dann müssen wir uns vom Norden anhören, die Süditaliener seien faul!"

Giuseppe ist sauer. Denn er ist nicht zufällig genau hier im Einsatz. Er spricht und versteht den lokalen Dialekt. Er will etwas für seine Heimat tun - und das heißt gegen die Familie Piromalli, die Herren von Gioia Tauro. Mit über 400 Mitgliedern ist sie nach Erkenntnissen der DIA, des nationalen Kriminalamts zu Mafiabekämpfung, die größte 'Ndrangheta-Abteilung Westeuropas. Sie machen in Drogen, in Waffen, in Subventionsbetrug und immer noch in Oliven und Zitrusfrüchten. Sie sind die Krake, der keine unternehmerische Aktivität in der Gegend entkommt. "Ikea wirst du hier nicht finden", sagt Giuseppe, "das wundert mich nicht."

Bevor sie den letzten Abhang hinunterfahren, um die wie ein Todesstreifen daliegende sogenannte Industriezone Richtung Hafen zu durchfahren, biegen Marco und Giuseppe noch mal ab. Ein Stück fahren sie an einer hohen Mauer entlang. Dahinter verbirgt sich die "Villa Bunker" der Piromallis. "Villa Bunker" ist der Fachbegriff für einen in Ausmaß und Habitus arroganten Landsitz, Schaltzentralen der Clans, die gleichzeitig als Versteck dienen. "Bei den Piromallis waren wir leider noch nie drin", sagt Marco. "Aber das kommt noch." Und Giuseppe sagt mit Blick auf das Hafenbecken, die Kräne der Verladeterminals und das Containergebirge: "Von hier sieht man genau, was los ist: eine Kathedrale in der Wüste."

Der mit Kameras bewachte Zaun um das Hafengelände sieht sehr neu und unüberwindbar aus. Aber die Sache mit dem Koks läuft anders, erklärt Marco: "Wenn das Koks für den lokalen Markt bestimmt ist, fährt der Abholmann mit dem Auto vor dem Container vor. Der Container wird geöffnet, vorne stehen zwei Taschen, rein ins Auto, raus aus dem Hafen. Die großen Portionen kann man nur im Scanner finden. Aber welchen Container sollen der Zoll oder die Finanzpolizei scannen - wenn wir hier vor Ort nichts gesteckt bekommen, wenn die Frachtpapiere keinen Verdacht erregen oder die Geheimdienste in Kolumbien es nicht rauskriegen?"

Colonello Alberto Reda von der Finanzpolizei in Reggio hat auch keine Antwort. Er sagt nur: "Sie dürfen nicht schreiben, dass Gioia Tauro das offene Tor Europas ist. Der Hafen ist zu wichtig für Kalabrien."

Alberto Reda ist so elegant und zuvorkommend, wie ein hoher italienischer Polizeioffizier an seinem freien Tag nur sein kann. Und für die Fakten braucht er in seinem Büro in der Kaserne der Guardia di Finanza in Reggio keinen Merkzettel: Gioia Tauro ist das größte Unternehmen Kalabriens, 2.000 Arbeitsplätze hängen davon ab. Wenn man Einkommen und Konsum der wirtschaftlich schwächsten Region Italiens vergleicht, kommt man (nach Angaben des italienischen Wirtschaftsministeriums von 2008) auf die Zahl 80 Prozent. In Kalabrien, erklärt Reda, wird um 80 Prozent mehr ausgegeben als erwirtschaftet. Das wieder ist Spitze auf dem Stiefel. Die 80 Prozent - das ist das Geld der 'Ndrangheta, das bedeutet Macht und Kontrolle. Und ein Großteil davon kommt über Gioia Tauro in die Region.

2009 landeten 5,1 Millionen TEU an, die Maßeinheit für Container. 95 Prozent davon ist Transshipment. Die Ware wird also gar nicht im Hafen verzollt, sondern verlässt ihn zumeist innerhalb von 24 Stunden wieder auf dem Seeweg. Das ist die Zeit, die Marco und Giuseppe verbleibt, die Zoll und Finanzpolizei zur Verfügung haben. "Und mach bloß nicht den falschen Kasten auf und unterbrich die Kühlkette", sagt Marco. Die ökonomische Uhr läuft, der Feeder wartet, die Ware muss reisen, um profitabel zu sein. Die Frage, wie viel Sicherheit es gibt, ist immer auch die Frage, wie viel Sicherheit man sich leisten will.

Nein, sagt Michele Prestipino, leitender Staatsanwalt in Reggio und zuständig für Gioia Tauro, und er entschuldigt sich: Das sei ein Scheinproblem. Das Gut, das es zu bewahren gelte, sei nicht die Schnelligkeit, sondern die Transparenz des Marktes. Wenn dadurch Verzögerungen aufträten, dann müsse das System das eben verkraften. Und ebenfalls nein, er habe sich da nie unter Druck gesetzt gefühlt. "Wenn wir durch unsere Kontrollen den Markt blockieren, dann haben wir nichts erreicht, dann verschmutzen wir den Markt. Wir müssen garantieren, dass der Markt offen bleibt, demokratisch. Unsere Kontrollen müssen intelligent sein." Natürlich sind sie es, hört man heraus. Insofern sei Gioia Tauro kein Problem für Europa. Das globale Problem seien die Häfen. Und wenn die 'Ndrangheta beschließe, sich in Hamburg einzurichten wie sie es hier, wie sie es in Duisburg getan habe, dann müsse man sich nicht mehr nach Kalabrien bemühen.

Dass 80 Prozent des kolumbianischen Kokains via Gioia Tauro nach Europa kommen, wie italienische Ermittler laut Guardian noch 2006 meinten, wollen weder Reda noch Prestipino bestätigen. Redas Ergebnis ähnelt dem Prestipinos: "Die 'Ndrangheta braucht Gioia Tauro nicht. Wenn wir diesen Hafen schließen, sucht sie sich einen anderen."

Was, wenn die beiden einfach recht haben? Wenn der Mafia-Hafen Gioia nicht die offene Tür Europas ist, sondern die Avantgarde? Wenn die italienischen Behörden die Lage noch einigermaßen im Griff haben? Zu dem Preis, dass allein 100 ausschließlich innerhalb des Hafens beschäftigte Finanzpolizisten - wie Alberto Reda bestätigt - 2.000 Arbeitsplätze sichern? Und drumherum der Zoll, die ROS, die Staatspolizei, Colonello Reda und Staatsanwalt Prestipino, die sich alle mit Ursprung und Auswirkungen des über den Hafen eingeschmuggelten Reichtums herumschlagen?

Die jüngsten Nachrichten aus Gioia sagen, dass der Hafen trotzdem kriselt. In Tanger und Port Said sind die Arbeitskräfte unschlagbar billig. Es gibt noch andere Probleme als die Mafia - aber die Mafia, sagt Reda mit dem Mantra aller italienischen Polizisten, sei ein weltweites Problem, dem sie sich hier am Rand des Kontinents in besonderer Weise widmen müssten, weil Europa schlafe: Schließt die Steuerparadiese. Kehrt die Beweislast für investiertes Geld um. Ganz ohne Ausrufezeichen sagt er das. So wie Marco in Bezug auf den italienischen Ministerpräsidenten nur lachend "von der anderen Plage" spricht. Gespräche mit italienischen Staatsdienern, die gegen die Mafia kämpfen, sind deswegen so erhellend, weil sie täglich erfahren, was Globalisierung wirklich bedeutet.

Und weil sie Niederlagen eingestehen können. "Stellen Sie sich vor, eine Hausfrau geht einkaufen und lässt den Wasserhahn laufen. Als sie zurückkommt, ist die ganze Küche überschwemmt. Und nun fängt sie an, den Boden aufzuwischen." Vincenzo Macrì ist ein alter Hase, ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einem schalkhaften Lächeln. Lange Jahre war er Richter in Reggio, danach stellvertretender Leiter der staatsanwaltschaftlichen nationalen Antimafiabehörde DNA. Heute ist er Generalstaatsanwalt im ruhigen Ancona. Er sieht nicht so aus, als hätte er in seinem Leben sich jemals für Drogenkonsum interessiert - auch wenn er beim Essen die Weinkarte mit Geduld und Sachkenntnis studiert. Aber er hat sich lange genug mit der kriminellen Ökonomie beschäftigt, um sich und anderen nichts mehr vorzumachen. Und seine Pointe kostet er aus: "Genau", sagt er, "sie wischt und wischt. Aber sie macht den Wasserhahn nicht zu."

Aus diesem Wasserhahn kommt kein Wasser. Sondern das weiße Pulver, dessen Gewinnspanne und zersetzender Einfluss so gigantisch ist, dass Marco und Giuseppe, die coolen Spezialisten der ROS, den Hafen von Gioia Tauro nicht durch den Haupteingang betreten. Denn sie wissen nicht, auf welcher Gehaltsliste der Pförtner steht.

 

Dank an das Museum der 'Ndrangheta in Reggio Calabria www.museodellandrangheta.eu

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