Klüngel bei Bahn-Projekt „Stuttgart 21“: Schwäbische Verflechtungen
Bei „Stuttgart 21“ ist aus den Beziehungen von Politik und Wirtschaft ein hartleibiger Filz entstanden. Die Strippenzieher verloren erst die Bodenhaftung, dann die Menschen aus dem Blick.
In Stuttgart sollte einfach die Jahrhundertchance nicht verpasst werden. So sagte es im April 1994 Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU), der täglich von seinem Wohnort Spaichingen mit dem Zug zur Arbeit fuhr, wenn er nicht gerade bei den Barmherzigen Schwestern im Stuttgarter Marienhospital Zuflucht fand, wo er ein Zimmer hatte. Das schärft den Blick. So sagte es auch der damalige Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU), dem darüber hinaus ein „Pilotprojekt für ganz Europa“ im Kopf herumspukte, das im Jahr 2008 fertig sein sollte. Für gut angelegte 4,5 Milliarden Mark.
Und so sagte es auch Heinz Dürr, der Bahn-Chef jener Zeit, der als der eigentliche Erfinder gelten darf. Ihm erschien eine „völlig andere Stadt“ vor dem geistigen Auge, und der gebürtige Stuttgarter wusste auch schon, wie: mit dem Regierungssitz hinterm Bahnhof, sprich dort, wo das Gewürm der Gleise lag. Dorthin sollte die Avenue 21 führen, auf der die Bürger zu ihrem Regenten pilgern konnten. Das hat Teufel gefallen, erinnert sich Dürr, insbesondere deshalb, weil er ihm einen schmucken Balkon zum Winken in Aussicht gestellt hatte.
Wenn Heinz Dürr sich heute an die Anfänge erinnert, wird ihm etwas wehmütig ums Herz. Der Großaktionär der Dürr-Gruppe ist im gediegenen Fünfsternehotel Schlossgarten abgestiegen, wo er immer das gleiche Zimmer bezieht, seit er seine Wohnstatt in Stuttgart aufgegeben hat und nach Berlin gezogen ist. Er bringt zwei Luftbilder mit, Datum 1993, auf denen das Gelände hinterm Bahnhof zu sehen ist. Einmal mit Gleisen, einmal mit Modellbauten, darunter auch die erwähnte Avenue 21, die mit grünen Bäumchen versehen ist.
Von Josef-Otto Freudenreich, 59, Publizist aus Stuttgart, erscheint am 17. September das Buch Die Taschenspieler. Verraten und verkauft in Deutschland (Edition Hubert Klöpfer), das er herausgibt - in Zusammenarbeit mit Meinrad Heck, Rainer Nübel und Susanne Stiefel. Darin erscheint auch dieser hier gekürzte Text über "Stuttgart 21".
Beide Fotos hat er damals Wissmann gezeigt, als er mit ihm in der Regierungsmaschine nach Köln-Bonn geflogen ist, und der Herr Verkehrsminister war auf Anhieb begeistert. „Das müssen wir machen“, habe er ausgerufen, erzählt Dürr. Dasselbe meinte auch Manfred Rommel, der Stuttgarter Oberbürgermeister, der 1994 die „zweite Stadtgründung“ in jeder Hinsicht „ausgesprochen günschtig“ fand.
Doch offenbar hat die Euphorie des Herr Rommel keine nachhaltige Wirkung entfaltet. 13 Jahre später, als schon viele Planungsmillionen den Nesenbach hinuntergeflossen waren, wehrten sich 67.000 Bürger per Unterschrift gegen das drohende „Milliardengrab“. Nur, dafür interessierten sich die Verantwortlichen bei Stadt, Land, Bund und Bahn wenig. Alles war abgesegnet von den bürgerlichen Blöcken in den Parlamenten, inklusive der SPD, hieß es, und damit demokratisch legitimiert. Basta.
„Stuttgart 21“ ist so zu einer Metapher für eine kaltschnäuzige Cliquenwirtschaft geworden, aber auch für einen brutalen Verteilungskampf. Viele haben nur bitter gelacht, als die Werbestrategen wieder einmal die Illusionsmaschine angeworfen hatten. „Stuttgart – das neue Herz Europas“, lautete der Slogan, und die Menschen fragten sich, wann der Infarkt kommt und wie viele Milliarden noch in dieses Fass ohne Boden gepumpt werden sollten.
Sie hatten gelernt, dass man den Job im Kaufhaus verlieren kann, wenn der Verdacht besteht, Pfandbons im Wert von 1.30 Euro könnten unterschlagen worden sein. Beim Bahnhof aber kommt es auf ein paar hundert Millionen mehr nicht an. Sie hatten gelernt, dass sie Objekte eines Modernisierungsprozesses sein sollen, auf dessen Verlauf sie keinen Einfluss haben, von dem sie nur ahnen, dass er noch schneller, noch technischer, noch undurchschaubarer werden wird.
Auch der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Deutschen Bundestag, Winfried Hermann, hat gelernt, dass dieses Geld unerheblich ist. Er ist wahrscheinlich derjenige, der am nachdrücklichsten versucht hat, in Berlin die Black Box namens „Stuttgart 21“ zu öffnen. Ohne Erfolg. Seine Anfragen an die Regierung füllen Ordner, die Antworten hinterlassen Leere. Der damalige Verkehrsminister Tiefensee (SPD) verspricht Aufklärung über die Zahlen, reagiert danach aber nicht mehr auf Briefe. Wenn die Grünen im Haushaltsausschuss einen Bericht über „S 21“ haben wollen, schickt ihnen der passionierte Cellist eine Power-Point-Präsentation von externen Wirtschaftsprüfern, die der Bahn bescheinigen, sauber kalkuliert zu haben.
Wenn sie eine Sondersitzung zum Thema Wirtschaftlichkeitsberechnung von „Stuttgart 21“ beantragen, lehnt die Regierung ab. Die Begründung ist immer die gleiche: geheim. Oder wie es im Amtsdeutsch des Ministeriums lautet: Die Deutsche Bahn verweigert die Zustimmung zur Einsichtnahme in die Unterlagen, weil sie „Daten und Informationen enthalten, die den Kernbereich der unternehmerischen Betätigung der DB betreffen“. Daran schloss sich auch die schwarz-gelbe Regierung nahtlos an, die sich gleich für unzuständig erklärte. „Stuttgart 21“ sei kein Projekt des Bundes, schrieb das Ministerium von Peter Ramsauer (CSU) im März 2010, sondern ein „eigenwirtschaftliches Projekt der DB AG“.
Der alte Hase der CDU
Da saß er nun, der Vertreter des Steuerbürgers, und sann darüber nach, wie es sein konnte, dass er keine belastbaren Informationen erhielt über ein milliardenteures Vorhaben, das der Bund zu großen Teilen zahlt und das ein Unternehmen vorantreibt, das dem Bund gehört, der seinerseits sagt, er habe da nichts zu sagen? Irgendwann hat Hermann begriffen, dass er in ein Spiel geraten war, das er nicht gewinnen konnte. Die Kollegen von der CDU und der SPD, soweit sie nicht aus Baden-Württemberg waren, erzählt er, hätten sich nie für die größte Baustelle Europas interessiert, nie das getan, was jedem aufrechten Gemeinderat als Pflicht erscheint: die Bilanzen seiner Stadtwerke prüfen.
Endgültig kapiert hat es Hermann, als ihm ein alter Hase in dem Geschäft verklickert hat, wie der Lauf der Dinge ist. Georg Brunnhuber sei's gewesen, der Vorsitzende der CDU-Landesgruppe, erzählt der Grüne, der ihm die Augen geöffnet habe. Es gebe Projekte, die durchgerechnet würden, so erfuhr er, und politische Projekte. Der Mann von der Ostalb, Jahrgang 1948, ist heute Aufsichtsrat der Deutschen Bahn.
Sie alle gehören zum Unterstützerkreis „Stuttgart 21“: An der Spitze Günther Oettinger, der am besten verdrahtete Politiker im Musterland. Der frühere Ministerpräsident hat sich stets als Chef der Baden-Württemberg AG gesehen, als Gelenkstelle zwischen Politik und Wirtschaft, was ihn insbesondere im Geldwesen als Aufseher über die kränkelnde Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) bewegt hat. Dort traf er naturgemäß auf seinen Spezi Heinrich Haasis, der einst Vorsteher der Landessparkassen und Chef des LBBW-Verwaltungsrats war und später Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes wurde.
Auf Haasis folgte der Landrat und Vielfachfunktionär Peter Schneider, mit dem Oettinger auch gerne Bläsergruppen auf dem Dorf ehrte. Politisch mag das korrekt gewesen sein, ökonomisch wurde es bedenklicher, als bekannt wurde, dass der Sparkassenverband bis 2008 Teilhaber der Oettinger-Gruppe war, einer Wirtschaftsprüfungs- und Unternehmensberatungsfirma in Ditzingen. Mit dabei seinerzeit Ministerpräsident Oettinger.
Selbstredend ist auch Lothar Späth ein feuriger Fan der schnellen Schiene. Der 73-Jährige, der während seiner Regierungszeit als einer der besten Luftballonspezialisten galt, präsentiert sich heute als glühender Verfechter der Globalisierung, was ihn zwangsläufig auf den Hochgeschwindigkeitszug seiner Kompagnons setzte – und an die Spitze des Aufsichtsrats der Herrenknecht AG. Die Firma im südbadischen Schwanau ist der Welt größter Tunnelbohrer, ihr Wahlspruch lautet: Wer mit uns bohrt, kommt weiter.
Ihr Eigentümer Martin Herrenknecht hat Späth 1986 auf einer Reise in die Türkei kennen- und schätzen gelernt, weil das allseits gerühmte „Cleverle“ sagte, was er dachte. Dass Deutschland auf den Abgrund zusteuert, wenn es nicht lernt, den Gürtel enger zu schnallen und den Blödsinn mit der 35-Stunden-Woche ad acta zu legen. Darüber vermag sich das 68-jährige CDU-Mitglied derart aufzuregen, dass es sogar einmal für den Bundestag kandidiert hat, um der Politik zu zeigen, wie wenig sie vom wirklichen Leben versteht.
Das war aber so ziemlich das Einzige, was schiefgegangen ist, dürfte aber verschmerzbar sein, weil Herrenknecht der Typ des Unternehmers ist, der die Entscheider nicht unbedingt im Parlament heimsuchen muss. Dafür eignet sich auch der Flieger. Sein Freund Hartmut Mehdorn, der Ex-Bahn-Chef, erzählt, der Martin sei bei jeder Kanzlerreise mit ökonomischem Hintergrund dabei. Er wisse eben, dass heute kein Großauftrag mehr ohne politische Vernetzung zu akquirieren sei.
Herrenknecht selbst rühmt, parteiübergreifend, Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier (beide SPD), die er auf seinen Auslandsreisen als verlässliche Partner erlebt habe. Und die Freunde im Land sind sowieso auf seiner Seite. Wirtschaftsminister Ernst Pfister (FDP) etwa lässt keinen Zweifel offen, dass Herrenknecht bei „Stuttgart 21“ graben muss. Bei den Ausschreibungen der Bauarbeiten sei es „zwingend notwendig“, betonte der Meister der Mundharmonika, den Weltmarktführer aus Südbaden zu berücksichtigen.
Zu guter Letzt soll, behaupten feindselige Geister, auch noch ein mächtiger Medienmensch zur großen Koalition der Unterirdischen gehören. Sie meinen Richard Rebmann, den Geschäftsführer der Südwestdeutschen Medien Holding (SWMH), unter deren Dach die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten erscheinen. Doch damit tun sie dem 52-jährigen Schwarzwälder unrecht. Es ist zwar richtig, dass ihn Stuttgarts Oberbürgermeister Schuster im Verwaltungsrat der LBBW haben wollte, genauso richtig aber ist, dass er dort nicht sitzt, weil ihn die Grünen im Gemeinderat verhindert haben.
Rebmann hätte den Job wohl auch nur widerwillig angenommen, aus purer Pflichterfüllung im Amte, das vielleicht ein gewisse Nähe zur Landesbank erforderlich erscheinen lässt. Aber nicht in politischer Absicht. Dazu hat er in seinem Reich, das von Südbaden bis nach Frankfurt (Oder) reicht, gar keine Zeit. Dafür gibt es Chefredakteure. Und die haben, sehr zum Verdruss großer Teile der Leserschaft, „Stuttgart 21“ zu ihrem Projekt gemacht. Lange vor Rebmann im Übrigen, der erst im Jahr 2008 ins Stuttgarter Pressehaus eingezogen ist.
Journalistisch war das nicht. Es war die Nähe zur Macht, die über viele Jahre einen anderen Blick verboten, fast keine Debatten über Für und Wider zugelassen und darüber den Leser vergessen hat. Es gibt dafür sogar einen gedruckten Hinweis, der den Möhringer Meinungsmachern wie ein Stein auf die Füße gefallen ist. Er stammt aus der Stuttgarter Zeitung (StZ) vom 27. Februar 2010, verfasst vom damaligen Ressortleiter Außenpolitik, Adrian Zielcke, der in frappierende Offenheit schrieb: „Ohne die Zustimmung der Stuttgarter Zeitung zu diesem Großprojekt würde, so vermute ich einfach einmal, ‚Stuttgart 21‘ nie gebaut werden.“ Seitdem ist dieser Satz einer der meistzitierten bei den Kundgebungen der Gegner. Der ehemalige Chefredakteur, Uwe Vorkötter, heute bei der Berliner Zeitung, sagt, es sei ein Fehler gewesen, „S 21“ zu StZ 21 zu machen.
Es mussten erst 67.000 Stuttgarter gegen die Pläne protestieren, viele von ihnen die Blätter in der Plieninger Straße mit zornigen Leserbriefen überziehen und mit Abbestellungen drohen, danach zwei Drittel der Einwohner in Umfragen ihr Nein ausdrücken, bis die Einsicht in den Chefköpfen durchsickerte, dass man es – nachdem das Grundsätzliche entschieden war – vielleicht mal mit einer etwas ausgewogeneren, inzwischen durchaus respektablen Berichterstattung probieren könnte.
Der Grüß-Gott-August
Einer, dem das weniger gefällt, ist Wolfgang Drexler. Der 64-jährige Sozialdemokrat ist seit Juli 2009 der Sprecher der Betreiber und seitdem so oft in der Zeitung wie nie zuvor in seiner Zeit als Abgeordneter und Landtagsvizepräsident. Das sei ein Grund gewesen, den Job anzunehmen, sagen sie in der SPD, weil die Rolle des Grüß-Gott-Augusts im Parlament keine Schlagzeilen hervorbringe. Andererseits habe er sich nicht verbiegen müssen, weil er schon immer für „Stuttgart 21“ war, wie seine Spitzengenossen eben auch, die stets tapfer an der Seite der CDU gestanden sind. Auch zum Preis der weiteren Marginalisierung der SPD.
Drexler war mal Oberpfadfinder in Esslingen. Aber immerhin: Heute trinkt er Tee statt Kaffee. Das Koffein, bekennt er, mache ihn aggressiv. Jetzt wird er „Mister S 21“ genannt, und er weiß nicht, ob er darauf stolz sein soll oder ob es nicht ein wenig albern klingt, so wie Mister Germany. Groß ist er ja schon, aber das Gesicht ist blass, weil er von Termin zu Termin hetzt. „Mein Hauptproblem“, glaubt er, „ist die Zeit“.
Wahrscheinlich fühlt er sich wie ein Wanderprediger, der seine Botschaft dort verkünden muss, wo die Menschen noch guten Willens sind. Und weil der Glaube an Großprojekte schwindet, wie er feststellt, ist Eile geboten. Den wohlmeinenden Menschen versichert er, dass er nicht ins Schema passe, nicht gekauft sei, nur 1.000 Euro Aufwandsentschädigung erhalte, kein Teil der Mafia sei, aber davon überzeugt, dass „S 21“ kein Atomendlager, sondern gut sei. Er soll ja einbinden, Ängste nehmen, gewinnen. All das tun, was vor ihm keiner getan hat.
Aber dafür ist keine Zeit mehr, weil er keine mehr will. Denn „Stuttgart 21“ ist für ihn „unumkehrbar, nicht rückholbar und nicht kompromissfähig“. Außerdem müssten Verträge aufgelöst werden, für deren Rückabwicklung mindestens 1 Milliarde Euro fällig würden. Nein und nochmals nein. Das steht so fest wie das Stück Schiene neben seiner Tür. Es ist ein Teil des Prellbocks 049, den Bahn-Boss Grube im Februar 2010 im Hauptbahnhof hochgehoben hat, als symbolträchtiges Signal des Baustarts. Seitdem ist für Drexler Schluss mit den Grundsatzdebatten, seitdem wird gedroht.
Der Rechenfehler
Damit schließt sich der Kreis. Geredet werden soll nur noch darüber, was die Herrschaften von Bahn, Bund, Land und Stadt beschlossen und als Beschluss auf ihre Grabplatten gemeißelt haben wollen. Die Bürger sollen ihn lesen und in Andacht versinken, als lebten sie noch im Königreich Württemberg. Denn, so behaupteten die großen und kleinen Regenten, es sei das bestgerechnete Projekt Europas. Beim Rechnen ist ihnen, wie bekannt, mancher Fehler unterlaufen. Der schlimmste aber war der Mensch. Ihn hatten sie einfach vergessen.
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