Politik: Kliniken gehen baden
Ob die nun beschlossene Krankenhausreform etwas rettet oder die Versorgung noch schlechter macht, ist umstritten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) behauptet, eine Revolutioneinzuleiten. Verdi und viele Beschäftigte glauben das nicht und protestieren in Friedrichshafen.
Von Gesa von Leesen
Als der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) ans Mikrofon tritt, schallt ihm ein Pfeifkonzert entgegen. Hinter Lucha aufgereiht stehen seine Amtskolleg:innen und versuchen, neutral zu gucken. Vor Lucha, auf der Wiese am Bodenseeufer, stehen 600 Frauen und Männer, die im Gesundheitswesen arbeiten. Und die genug haben von zu wenig Kolleg:innen, von zu geringer Bezahlung, von einem System, das Krankenhäuser auf Gewinnerzielung trimmt anstatt aufs Heilen.Deshalb pfeifen sie.
Es ist Gesundheitsministerkonferenz (GMK) in Friedrichshafen, Lucha ist gerade deren Vorsitzender und verhandelt im Graf-Zeppelin-Haus mit seinen Länderkolleg:innen über die geplante Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der bezeichnet sie als Revolution. Warum, ist unklar. Denn eine Revolution wäre ja ein Systemwechsel, doch den sieht die Reform nicht vor. Grob zusammengefasst sollen Kliniken sich nur noch zum Teil über Fallpauschalen finanzieren, zudem sollen sie Geld bekommen für Leistungen, die sie vorhalten. Wie viel das sein wird, soll sich wiederum nach Versorgungsstufen richten, in die die Kliniken eingeteilt werden.
Im Rahmen der Prüfung, welche Kiniken welche Leistungen anbieten sollen, lässt sich dann feststellen, welches Haus geschlossen werden soll. Dass dies notwendig ist, davon sind viele Minister:innen – auch Manfred Lucha – und liberale Ökonomen seit Jahren fest überzeugt: Sie meinen, Deutschland ist mit Krankenhäusern überversorgt.
Überversorgt sehen sich Beschäftigte (und wahrscheinlich auch die meisten Patient:innen) derzeit eher nicht. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft gibt es 30.000 unbesetzte Pflegestellen, auch Ärzt:innen fehlen zunehmend. Beschäftigte in outgesourcten Abteilungen wie Hauswirtschaft, Putzen, Therapie verdienen schlecht. Und wer als Patient:in ins Krankenhaus muss, kann vielfältige Geschichten erzählen von Ärzt:innen, die nicht zuhören, Pfleger:innen, die sehr lange auf sich warten lassen, und vom Krankenhauskeim sowieso.
Also hat Verdi seine Mitglieder im Gesundheitswesen aufgerufen, nach Friedrichshafen zu kommen, um der GMK ihre Forderungen mit auf den Weg zu geben. Zentral: ein Gesundheitssystem, das alle Patient:innen optimal versorgt, den Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen bietet, sich nicht rechnen muss und das kein Spielball von privaten Betreibern mit Renditeerwartungen sein darf. Auf der Wiese vor dem Graf-Zeppelin-Haus lauschen die Demonstrierenden den Reden von Betriebsrät:innen und hauptamtlichen Verdianer:innen, begrüßen einen Trupp Radfahrer:innen aus Dresden, der bei seiner fünf Tage dauernden Anreise gegen ein gewinnorientiertes Gesundheitssystem protestiert hat, sie gehen mit Protesttransparenten ins Wasser und genießen die Sonne am See.
Das Gesundheitswesen ist Teil der Lieferkette
Besonders gut an kommt die Rede von Achim Dietrich, Betriebsratsvorsitzender von ZF in Friedrichshafen, dem größten Industriestandort in der Region. Die Politik rege sich über ein paar fehlende Halbleiter auf, die die Lieferkette unterbrechen, sagt er. „Warum aber nimmt man hin, dass Patient:innen keine ausreichende Versorgung bekommen? Auch dieser Teil der Lieferkette muss funktionieren.“ Wenn Arbeitnehmer:innen keine Termine beim Facharzt bekommen, mit Schmerzen zur Arbeit gehen und lange krank sind, schade auch das der Wirtschaft. „Wenn die Kapitalisten keine Menschlichkeit kennen, dann müssen wir sie bei dem packen, was sie interessiert: dem Profit.“ Steige bei ZF der Krankenstand um ein Prozent mehr als vorausgesehen, koste das den Konzern vier Millionen Euro im Jahr. „Das Geld wäre besser im Gesundheitssystem angelegt als in der Krankenverwaltung“, findet Dietrich, der als Gesamtbetriebsratsvorsitzender 50.000 Patient:innen vertrete, wie er sagt.
Autos bauen lohntsich mehr
Wieder zur Lieferkette gehören, also arbeiten, möchten manche Klient:innen von Torsten Lang. Der Sozialarbeiter schafft im Gemeindepsychiatrischen Zentrum des Klinikums Stuttgart und betreut psychisch kranke Menschen. „Manche lernen, trotz Ängsten wieder einkaufen zu gehen, andere unterstützen wir, eine Tagesstruktur einzuhalten“, sagt er. Psychosen, Depressionen, Borderline, Messiesyndrom – die Krankheiten, mit denen Menschen zu ihm und seinen Kolleg:innen kommen, sind vielfältig. Lang mag seinen Beruf, aber dabei selbst gesund zu bleiben, sei schwierig, sagt der 56-Jährige. Da wünscht er sich mehr Bemühungen von den Arbeitgeber:innen und auch mehr Anerkennung. „Monetäre.“ Der Beruf sei belastend, Klient:innen seien oft aggressiv. „Da frage ich mich schon, wie das im Verhältnis steht zu Arbeitern bei VW am Band. Die verdienen mehr als wir.“ Was allerdings mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängen könnte, der bei VW sehr hoch und im Gesundheitswesen eher niedrig ist.
Arbeiten wie am Fließband kennt Anna Gioftsirou. Die 47-Jährige ist Altenpflegerin – ursprünglich aus Überzeugung. „Weil ich mit meinen Großeltern aufgewachsen bin. Da fühlt man sich wie ein Baum mit ganz starken Wurzeln.“ Doch der Job hat sie gesundheitlich ausgelaugt. „Geteilte Schichten sind sehr anstrengend. Dann diese Minutenpflege wie am Band – das ist nicht gut“, sagt sie. „Ich hatte einen Patienten, der wog sehr viel und war querschnittsgelähmt. Aus dem Bett heben, in die Dusche, wieder in den Rollstuhl, anziehen …“ Irgendwann brach sie zusammen. Burnout, und zwei Lendenwirbel „liegen quasi aufeinander“. Lange war sie krank, der Wiedereinstieg schwierig. Nun arbeitet sie im sozialen Dienst mit geregelten Arbeitszeiten. Auf ihrem ganzen Weg – Krankheit, neuer Job, Fortbildung – habe Verdi ihr stets geholfen. „Das vergesse ich nicht. Ich bin bei jeder Aktion dabei.“ Außerdem würde sie gerne Lauterbach treffen. „Ich möchte ihm sagen, wie schlimm das in der Pflege ist!“
Das gelingt ihr nicht. Zwar kommt der Bundesgesundheitsminister später überraschend doch noch, nachdem es zunächst hieß, ihn halten die Haushaltsverhandlungen in Berlin. Doch sein Auftritt ist kurz. Dafür souveräner als der von Manfred Lucha. Der zeigt deutlichen Widerwillen vor der Menge, die ihm nicht freundlich gesonnen ist, auch weil Baden-Württemberg das Land mit den meisten Krankenhausschließungen in den vergangenen Jahren ist. Wie bei jeder Verdi-Demo betont er, dass er Gewerkschaftsmitglied ist. „Hau ab!“, hört er aus der Menge. Er versucht, zu erklären, dass die Gesundheitsminister:innen gerade eine historische Gelegenheit hätten, „Kliniken, die am Markt am Start sind, gut auszustatten“. „Buh!“ Als er noch sagt: „Wir waren noch nie so nah an einer bedarfsgerechten Versorgung bei besten Bedingungen fürs Personal“, ist die Menge kurz vor dem Explodieren. „Auch du wirst mal alt!“, ruft einer.
Die Gefahr des wilden Kliniksterbens
Sylvia Bühler vom Verdi-Bundesvorstand erklärt den Minister:innen: „Wir befürchten, dass viele Kliniken wegen der Inflation und den Energiekosten bald nicht mehr da sind. Da muss jetzt viel Geld rein, um sie auf die Reform vorzubereiten.“ Sonst würden Kliniken schließen, und in zwei Jahren stelle man fest, genau diese bräuchte man. Getuschel auf der Bühne, Bühler: „Ich höre gerade, das ist auch die Position der Gesundheitsminister:innen.“
Wenige Tage später zeigt sich: Die haben sich damit nicht durchgesetzt. Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, hat im Haushaltsentwurf 2024 das Budget des Gesundheitsministeriums um ein Drittel gekürzt. Es ist unwahrscheinlich, dass Krankenhäuser, denen das Wasser gerade bis zum Hals steht, einen Zuschuss bekommen, und so dürfte genau das eintreten, wovor Bühler warnt: ein unstrukturiertes Krankenhaussterben noch bevor die Reform 2024 an den Start geht – so der Plan.
Als Lauterbach schließlich ans Mikro tritt: Pfeifkonzert. In seiner gewohnten, leicht zerstreut wirkenden Art und in rheinischem Singsang bittet er: „Hören Sie mir zwei, drei Minuten zu. Dann kann das Pfeifkonzert weitergehen.“ Das funktioniert einigermaßen. „Wenn wir diese Reform nicht angehen, dreht sich die Spirale weiter. Immer mehr Druck, immer weniger Personal.“ Man wolle Kliniken zu 60 Prozent unabhängig von Fallpauschalen finanzieren, die restlichen 40 Prozent aber weiterhin wie gewohnt. „Damit geht der ökonomische Druck runter.“ Und Klinken, die nicht in der Lage seien, 40 Prozent über Fallpauschalen zu finanzieren, ja, die sollten auch nicht existieren. „Ich bitte Sie um ein Minimum an Vertrauen.“
Dann marschieren die Minister:innen zurück ins Zeppelinhaus. Bis auf einen: Der Bayer Klaus Holetschek, CSU, geht runter zu den Leuten und sucht das Gespräch – er wird kurz danach die einzige Gegenstimme zur Krankenhausreform abgeben. So traut sich in Friedrichshafen immerhin einer an diejenigen ran, die bei allen Gesundheitsreformen der vergangenen Jahrzehnte nie einbezogen wurden. Genauso wenig übrigens wie Patient:innen.
Engagiert, lernbegierigund ungesichert
Um die sollen sich in Zukunft junge Pfleger:innen kümmern, wie die fünf Pflege-Azubis, die extra aus Marburg angereist sind. „Es geht ja um unsere Zukunft“, sagt Omar Buzan, 23, vor acht Jahren aus Syrien geflohen. Das erste Ausbildungsjahr haben die jungen Leute hinter sich und auch die ersten Stationseinsätze. „Da kriegt man schon mit, was das für ein Stress ist“, erzählt Kardelem Sahan, 18. „Jetzt haben wir ja noch Welpenschutz, aber die Vorstellung, in zwei Jahren sind wir voll verantwortlich – das ist schon heftig.“
Vier der fünf jungen Leute stehen stellvertretend für die Absurdität des deutschen Aufenthaltsrechts. Außer Omar sind auch Laela al Ouklah und Joan Ibrahim aus Syrien, Abdul Hanan kam vor vier Jahren aus Afghanistan. Alle haben erst ein Jahr Krankenpflegehilfe gelernt und sich dann für die dreijährige Ausbildung entschieden. „Weil das Lächeln der Menschen, denen man helfen kann, eine große Freude ist“, sagt Joan. Laela erzählt, wie praktisch es sei, dass sie (wie die anderen) mehrere Sprachen spricht. „Da freuen sich Patienten.“ Außer Kardelem, die in Deutschland geboren ist, hat niemand einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Joan hat Bufdi gemacht, Abdul ist Jugend- und Auszubildendenvertreter. Omar muss alle drei Monate aufs Ausländeramt und sich bescheinigen lassen, dass er bleiben kann. „Ich habe Hauptschulabschluss, Realschule, FSJ – was wollen die noch!“, ruft er. Das wäre eine Frage an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, und Außenministerin Annalena Baerbock, Grüne. Die beiden sind vor einem Monat nach Brasilien gereist, um dort ein Anwerbeabkommen für Krankenpfleger:innen abzuschließen.
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