Klima- und artenschützendes Wirtschaften : Der Staat muss lenken
Meine Erkenntnis aus 30 Jahren als Nachhaltigkeitsmanager: Politik muss die Transformationskraft der Wirtschaft in die ökologische Richtung lenken. Sonst wird das nichts.
Von JOHANNES MERCK
Bevor ich, vom Tagungsleiter freundlich begrüßt, das Podium erklommen hatte, um über einen verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen im Textilsektor zu sprechen, war der Saal voll gewesen. Mein Vorredner hatte sehr unterhaltsam über »Modern Design 2000« referiert. Die Stimmung war gut. Meine auch. Das sollte sich ändern. Während ich noch mit PowerPoint und Mikro beschäftigt war, fiel mir schon die Unruhe auf, die sich unter den Zuhörern breitmachte. Ursache war eine breite Fluchtbewegung. Das Publikum zerstreute sich eilig in alle Richtungen. »Ökobasiertes Stoffstrommanagement« – das wollte nun wirklich (fast) keiner hören.
Und da war sie wieder, die innere Stimme: »Heul doch!«
Selbst schuld, könnte man sagen. Denn ich hatte mir das Thema Umweltschutz zum Beruf gemacht. 1992 hatten sich in Rio de Janeiro 178 Nationen in ihrer »Agenda 21« verbindlich darauf verständigt, die Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung zur Prämisse ihrer Politik für das 21. Jahrhundert zu machen. Dass diese Prinzipien die Art unseres Wirtschaftens grundlegend verändern müssten, erschien nur folgerichtig. Schließlich lagen Tschernobyl, saurer Regen und Waldsterben bereits hinter uns. Über die drohende »Klimakatastrophe« hatte der Spiegel schon 1987 in einer Titelstory ausführlich berichtet. Man durfte also davon ausgehen: Jetzt wird endlich Ernst gemacht! Daran wollte ich mitwirken.
Und tatsächlich: In Deutschland regnete es kluge Lösungskonzepte, wie die Agenda 21, die zur Grundlage praktischen Handelns in der Wirtschaft werden konnte. Michael Braungart präsentierte mit »cradle to cradle« seine Idee einer Kreislaufwirtschaft; Ernst Ulrich von Weizsäcker publizierte Bücher und Artikel zur »Effizienzrevolution«; Maximilian Gege organisierte mit seiner B.A.U.M.-Initiative die Wirtschaft für den betrieblichen Umweltschutz; Hermann Scheer trieb unermüdlich gesetzliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für den Ausbau erneuerbarer Energien voran. Um nur einige zu nennen.
Ich hatte bereits seit 1990 beim damaligen Otto Versand ein Thema mitgestaltet, das es so noch gar nicht gab: Corporate Responsibility. Wir nannten das »unternehmerischen Umweltschutz« und machten uns an die Arbeit, unsere Prozesse und Wertschöpfungsketten nach den Maßgaben der in Rio vereinbarten Prinzipien zu optimieren. Dafür spürten wir öffentlichen Rückenwind, deshalb erwarteten wir als Konsumgüterhändler, dass auch der Markt das Thema bald treiben und richten würde. Investitionen in den Umweltschutz sind Investitionen in den Unternehmenserfolg von morgen: das war unser betriebswirtschaftliches Kalkül zu Beginn der 1990er-Jahre. Die zunehmende Umweltzerstörung, das Artensterben, die Verknappung von Ressourcen und der Klimawandel würden die Kunden aktivieren und den Wettbewerb um die besten Lösungen antreiben.
Es ist anders gekommen.
Die Kosten für die Versäumnisse der Vergangenheit werden weiter steigen
Jenseits von Rio und der Agenda 21 vollzog sich zur gleichen Zeit eine andere, viel wirkmächtigere Entwicklung. Der Neoliberalismus wurde zur beherrschenden Denkrichtung der Politik. Ich denke, das wird im Folgenden deutlich. In der WTO wurden die Regeln des internationalen Handelns neu vermessen. Zollgrenzen fielen. Staatliche Regelungen und Normen wurden vielfach geschleift. Statt den Agenda-Prinzipien zu folgen, mussten wir Nachhaltigkeitsbeauftragte uns nun gegen ein »race to the bottom« stemmen – den Drang der Unternehmen, auch des eigenen, die Kosten zu minimieren und in einer entgrenzten Welt die Produktion dorthin zu verlegen, wo die Umwelt- und Sozialstandards am niedrigsten waren. Der heimische Markt für umweltgerechtere Produkte war nicht angesprungen, sie waren im Preiskampf chancenlos.
So hatten wir bei Otto beispielsweise viel Forschungsarbeit, Kreativität und Liebe in unsere erste Öko-Kollektion, die »Future Collection«, gesteckt. Feinste Ware, gefertigt aus schadstoffgeprüfter, prozessoptimierter, nachhaltig kultivierter Biobaumwolle. Aber der gute und deshalb teure Zwirn blieb wie Blei in den Regalen unserer Warenverteilzentren liegen. Anderen Öko-Pionieren erging es mit ihren Innovationen nicht anders. Stars wie Britta Steilmann verglühten. Die Erkenntnis war wohlfeil: Umweltschutz war für den Kunden bei seiner Kaufentscheidung nur ein Zusatznutzen. Mehr nicht. Kein Wunder, dass die Begeisterung für Umweltinvestitionen in den Chefetagen der Unternehmen wieder spürbar abnahm. Karrierefördernd war das für uns Nachhaltigkeitsmanager erst einmal nicht.
Zumal es auch in den Medien geradezu schick wurde, dem Club of Rome seine Irrtümer vorzuhalten und daraus abzuleiten, dass die von ihm 1972 postulierten Grenzen des Wachstums blanker Unsinn seien. So viel war ja auch richtig: Die Globalisierung hatte weltweit für einen enormen Wohlstandsschub gesorgt, die Weltwirtschaft wuchs und die Menge der Warenströme vervielfachte sich. Der Ölpreis sank und sank und fiel bis 2008 auf unter 20 Dollar pro Barrel. Knappheit sieht anders aus. Das nahm denjenigen Kräften in der Wirtschaft, die sich für eine entschiedene Kursänderung einsetzten, noch mehr Wind aus den Segeln. Und so sank das Interesse meiner Kollegen an »ökobasiertem Stoffstrommanagement« erst recht auf den Nullpunkt.
Wissen führt eben leider nicht zum Handeln und die vermeintliche ökonomische Rationalität erweist sich als eine contradictio in adiecto, wenn es um langfristigen Klima- und Umweltschutz geht. Nicholas Stern hatte es in seinem Stern-Report bereits 2006 prophezeit: »Nicht zu handeln, das wird teuer.« Heute zahlen wir für die Versäumnisse der Vergangenheit volkswirtschaftlich bereits einen sehr hohen Preis. Und diese Kosten werden weiter steigen.
Wenn ich von den vielen Milliarden Euro höre, die derzeit in die Abwehr des Artensterbens und des Klimawandels und für die Reparatur ihrer Folgen verbraucht werden, dann könnte ich mir die Haare raufen: Was hätten wir mit dem Geld in den letzten dreißig Jahren alles machen können. Auch deshalb werfen die Mitglieder von Fridays for Future uns, der älteren Generation, vor, dass wir uns »durch Unterlassen« schuldig gemacht haben. Und das zu Recht.
Eingriffe in das Marktgeschehen werden notwendig sein
Aber halt! Es ist nicht nichts passiert. Die Idee einer »Versöhnung von Ökonomie und Ökologie« hatte in den 1990er-Jahren ihren Platz doch nicht nur in den Imagebroschüren der Wirtschaft gefunden. Es wurde auch manches erreicht, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Maßgebliche soziale und technische Innovationen wurden entwickelt. Ohne sie hätten wir heute überhaupt keine Chance, den sichtbar und fühlbar gewordenen Herausforderungen etwas Maßgebliches entgegenzustellen. CO2-freie Energieerzeugung, Kreislaufführung von Rohstoffen, nachhaltige Bodenbewirtschaftung, soziale Menschenrechte in den Wertschöpfungsketten – all diese Lösungen gehen zurück auf kreatives Denken, pionierhaftes Handeln und eine praktische Erprobung in den vergangenen Jahrzehnten. Daran haben viele, auch wir bei Otto, nach Kräften mitgewirkt. Das zählt.
Dass es an einer Skalierung der positiven Ergebnisse sowie an einer konsequenten Umsetzung gemangelt hat, ist allerdings fatal. Das schmälert deren Wirkung, aber nicht den guten Willen der Akteure. Und es fordert uns auf, endlich Ernst zu machen. Dafür müssen aber die Rahmenbedingungen geschaffen werden, auch Eingriffe in das Marktgeschehen werden notwendig sein. Denn wenn Öko in der Nische bleibt, bleibt es bei hohen Kosten. Und der Markt springt nicht an. Wie kommen wir raus aus diesem »Locked in«?
Man kann es innerhalb des Systems versuchen. Bei Otto haben wir für den Textilsektor das Mittel der Nachfrageallianz erprobt – und das durchaus mit Erfolg. Eine Reihe gleichgesinnter Unternehmen verständigt sich darauf, bei ihrem Einkauf von Waren gemeinsam auf die Einhaltung bestimmter Umwelt- oder Sozialstandards zu bestehen, sie bündeln ihr Nachfragepotenzial und machen Druck auf die Lieferkette. Mit Blick auf die Durchsetzung von Sozialstandards, die Nachfrage nach kleinbäuerlich erzeugter, afrikanischer Baumwolle und die Berücksichtigung von CO2-Maßnahmen in der Textilproduktion hat das ganz gut funktioniert. Gleichwohl waren die Fortschritte bescheiden, denn es bestimmen immer die Langsamen das Tempo eines Geleitzuges. Größe und Schlagkraft solcher Allianzen korrespondieren: Ist sie klein und anspruchsvoll, bleibt der Durchsatz gering, weil die Masse fehlt; ist sie breit, agiert sie weniger ambitioniert. Dieses Instrument allein ist also auch nicht der Königsweg.
Man muss an die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse im Grundsatz ran. Wir brauchen andere Regeln. Und daran wird ja auch überall gearbeitet. So ist derzeit viel die Rede von der Internalisierung externer Kosten und der Inwertsetzung von Ökosystemleistungen. Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Einfach gesagt, kriegt die Natur ein Preisschild. Schade ich ihr, zum Beispiel durch die Ablagerung von CO2 in der Atmosphäre, bezahle ich dafür mit einem CO2-Zertifikat. Das handelt man an der Börse und das funktioniert schon ganz gut. Nützt uns die Natur, zum Beispiel durch die CO2-Bindung von Wäldern und Mooren, vergüte ich diese Leistungen denjenigen Landnutzern, die für Wasser, Böden, Pflanzen und Tiere Verantwortung übernommen haben. Auch Maßnahmen für den Erhalt der Artenvielfalt sollen so ihren Wert, vulgo: ihren Preis, bekommen. Dieses Verfahren ist allerdings noch nicht weit genug entwickelt. Wen bezahle ich, wie viel ist die Leistung wert, wie lange kann ich sie konservieren, wer steht für die Kosten gerade? Und wie gebe ich sie weiter? Fragen über Fragen.
Um denen auf den Grund zu gehen und förderliche Rahmenbedingungen für ein klima- und artenschützendes Wirtschaften zu schaffen, spürt man jetzt endlich auch aus der Politik in Brüssel und Berlin ein bisschen Rückenwind. Initiativen wie die CEO-getragene Stiftung Klimawirtschaft mögen dazu einen Beitrag geleistet haben: Nicht bremsen, sondern Dampf machen ist das Gebot der Stunde, und dabei muss der Staat eine starke Rolle spielen. Lange genug hat das politische Regelwerk die Transformationskraft der Wirtschaft nicht in die ökologische Richtung gelenkt. Manche Lobbyisten haben dazu ihren unheiligen Beitrag geleistet. Wenn man diese Spezies nicht kaltstellt und zugleich Parlamenten und Regierungen Druck und Mut macht, wird das nichts mit dem grundlegenden Wandel. Und am Ende verlieren wir alle.
JOHANNES MERCK ist Stiftungsvorstand bei der Umweltstiftung Michael Otto.
Dieser Beitrag ist im Juni 2023 in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°25 erschienen.