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■ Kleinliches Feilschen um den sog. SolidarpaktAls sei alles beim alten

Als der Kanzler im letzten Jahr wieder einmal in besonderer Verlegenheit war, erfand er den Solidarpakt. Zwar wußte er so wenig wie alle anderen Leute, was das denn sein könnte. Aber die Idee war offenbar so bestechend, daß alle mehr oder weniger dafür, jedenfalls niemand so richtig dagegen war. Die Eintracht fiel schwer – war dieser Kanzler doch wiederholt der Steuer- und sonstiger Einheitslügen überführt worden.

Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung. Helmut Kohl und sein Finanzminister haben die schlimmsten Erwartungen so gut erfüllt, daß wir uns erleichtert empören und näheres Hinsehen ersparen können. Erziehungsgeld, Sozialhilfe, Kindergeld und Arbeitslosenunterstützung – das war nicht gemeint, als immer wieder gerufen wurde, der Kanzler solle doch endlich die Wahrheit über die Lasten der Einheit auf den Tisch legen. Die Politiker seien zu feig, der Bevölkerung Abstriche an Besitzständen abzuverlangen, lautete das kritische Credo. Jetzt scheint es fast, als habe mancher dieser Rufe weniger der Sache der deutschen Integration als einer stillen, alten Hoffnung gegolten: Müssen die satten Westdeutschen doch noch lernen, wozu sie weder im Falle der Entwicklungsländer noch in der Umweltfrage bereit waren – das Teilen nämlich?

So nicht! heißt es bei Gewerkschaften und SPD, die „die unteren und mittleren Einkommen“ vom Teilen selbstredend ausgenommen wissen wollen. Aber was sonst? Die „soziale Schieflage“ beklagen längst auch andere, doch das bleibt ohne erwähnenswerte Folgen. Denn statt aus den Konflikten innerhalb der Union Kapital zu schlagen, versteckt sich die SPD dahinter. Solange die Koalition keine eindeutige Position vertrete, so die wohlfeile Ausflucht, könne sich die SPD nicht verbindlich erklären.

Die Regierungsparteien orientierungslos, die SPD in vollendeter Konfusion, das grün-alternative Lager gerade noch zu einer linkssozialistisch anmutenden Kritik fähig: Das Gezänk um Sparbeschlüsse, Streichlisten, Abgaben und Steuern offenbart eine fast schockierende Entfernung zu dem Problem, dem das Zauberwort vom Solidarpakt eigentlich gilt.

Warum glückt der sozialpolitische Unfug, Waigel die beabsichtigte Kürzung des Kindergelds wieder abzuschwatzen? Zusätzliche Einkommensgrenzen beim Kindergeld sind höchst diskutabel. Warum fallen die Klagen da, wo Kohl, Lambsdorff und Waigel den Zweck der Übung massiv verfehlen, so moderat aus und kommen überwiegend aus dem Osten? Läppische 1,5 Milliarden für die Gemeinden im Osten enthält der Nachtragshaushalt 1993, statt der notwendigen 6 bis 10 Milliarden für die neuen Länder. Das heißt, bis 1995 weiter auf unsicheren Füßen und Pump leben. Heißt, die unendliche Geschichte vom Nachfordern und Nachbessern fortsetzen, und wirft außerdem die Frage auf, zu welchen Dimensionen das Desaster im Osten bis 1995 noch anwachsen wird.

Die Idee vom Solidarpakt besticht wirklich, denn sie ist alternativlos. Die neuen Bundesländer brauchen Geld, Investitionen und Entwicklung, um die deutsche Desintegration zu überwinden. Es ist erstaunlich, wie unbekümmert das soziale, politische und mentale Gefälle zwischen Ost und West gerade bei denen zur Kenntnis genommen wird, die die Wiedervereinigung skeptisch begleitet haben. Eine auf Dauer instabile und zerrissene Bundesrepublik – ein Deutschland dieser Art wäre gewiß zum Fürchten. Die Skepsis verlängert sich indessen gradlinig in die Solidarpakt-Diskussion. So kommt mancher Einwand gegen das Konsolidierungskonzept der Koalition daher wie der zehnte Nachtrag zur Einheitsdiskussion von 1989/90. Und manche wortreiche Detailkritik, die soziale Grausamkeiten und Rechenfehler in Milliardenhöhe aufzählt, ist in Wahrheit nur der Stoßseufzer: Das mußte ja schiefgehen! Das haben wir ja gleich gesagt!

Läßt sich leugnen, daß Verstand und Gefühl immer noch nicht so recht in der neuen Bundesrepublik angekommen sind? Statt einer strittigen und nüchternen Verständigung darüber, wie was in welchen Zeiträumen sich entwickeln soll, erleben wir eine Debatte, in der es von Überhöhungen nur so wimmelt. Oskar Lafontaine will unverkennbar doch noch recht bekommen, die stellvertretende DGB-Vorsitzende Engelen-Kefer entdeckt gar Diabolisches im Regierungskonzept, mancher Mittelschichtler (West) zuckt die Schultern: Jetzt sehen sie eben, was sie davon haben, die Ossis. Tausende von Milliarden, die Kosten, düster, die Situation, gigantisch, die Aufgabe – das dramatische Vokabular entrückt das Problem in die Sphären des Ungreifbaren. Aber die Kluft zwischen den 60 und den 17 Millionen ist unüberwindbar.

Immerhin liegt mit dem Konsolidierungskonzept der Bundesregierung der erste Versuch vor, die auseinanderstrebenden (Finanz- )Interessen irgendwie unter ein Dach zu bekommen. Der öffentliche Krach des diskreten Erwin Teufel mit Helmut Kohl illustriert das Ausmaß der Interessenkonflikte, die dabei zur Debatte stehen.

Der Solidarpakt ist nötig, weil Interessen neu austariert werden müssen, nicht nur zwischen Kanzler, Finanzminister und Unions- Länderchefs im Osten und im Westen. ... Statt dessen verhalten sich jetzt alle so, als sei von der Regierung der Entwurf eines harmonischen Gemeinwesens zu verlangen. Und wissen es doch selbst nicht besser: Die SPD trudelt unverkennbar darauf zu, Brandenburg dem Regierungslager wie beim Streit um die Mehrwertsteuer in die Arme zu treiben. Die Volkspartei entwickelt sich zusehends zum Vermittlungsausschuß für sozialdemokratische Landesväter, die ihr Schäfchen im trocknen behalten wollen. Ihr Minimalprogramm – keine Streichung bei Sozialhilfe, Arbeitslosen- und Wohngeld – begründet jedenfalls keine gesamtdeutsche Perspektive. Die Gestaltungsetiketten – mal Industriepolitik, neuerdings wieder ökologischer Umbau – werden zu offensichtlich aus Verlegenheit gezückt, um überzeugend zu wirken.

Und auch die Gewerkschaften lassen sich wenig bis nichts dazu einfallen, daß westdeutsche und ostdeutsche Betriebsräte oft an entgegengesetzten Enden des Strickes ziehen, wenn es um Unternehmensentscheidungen geht, daß die Verbindlichkeit von Tarifverträgen unterhöhlt wird, weil ostdeutsche Betriebsräte aus Angst um die Arbeitsplätze auf eigene Faust handeln. Statt sich um das Auseinanderdriften der Branchenentwicklung im Osten zu kümmern, gehen die Einzelgewerkschaften konsequent getrennte Wege.

Es nützt auf die Dauer wenig, sich auf die Schwächen und falschen Ansätze der Regierungspolitik zu berufen, um sich vor diesen Schwierigkeiten davonzustehlen. Daß der Streit um den Solidarpakt auf das Niveau des kleinlichen Feilschens abgesunken ist, liegt nicht an der Regierung allein. Niemand wird sich davor drücken können, daß die deutsche Integration für die nächsten Jahre auf dem ersten Platz der innenpolitischen Tagesordnung steht. Tissy Bruns

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