: Kleingeld in der Sofaritze
Erdrückende Sozialmisere: Mike Leighs Film „All or nothing“ gönnt seinen Figuren keine Atempause
Die Verhältnisse sind eng in Mike Leighs neuem Film „All or nothing“. Phil, die Hauptfigur (Timothy Spall), duckt sich unter ihnen. Wenn er geht, schleicht er, den Kopf zieht er ein, sodass er nirgends anstößt und niemandem widersprechen muss. Seine Tochter Rachel (Alison Garland) gleicht ihm in ihren verhaltenen, unentschiedenen Bewegungen, in der Art, wie sie Anwürfe erträgt, in ihrem Schweigen. Der Umfang ihres Köpers steht in umgekehrtem Verhältnis zu dem Platz, den sie für sich beansprucht. Auch darin sind sich Vater und Tochter nah.
Wer aufbegehrt in den Londoner Sozialwohnungen, die Mike Leigh zur Kulisse wählt, tut das ohne Sinn und Verstand: Die eine trinkt, der andere prügelt, der Nächste isst zu viel und flucht. Die Übrigen nehmen ergeben hin, was Schicksal, gesellschaftlicher Umstand oder selbst verschuldete Unmündigkeit ist. „All or nothing“ legt nicht fest, wo der Grund der Misere liegt. In der Struktur des Dramas, in den Folgen des Neoliberalismus, im Psychogramm der Figuren? Es bleibt in der Schwebe. Durch diese Offenheit gelingt Leigh mehr als ein Stück engagierten Kinos, mehr als eine Sozialstudie über die neue Armut derer, die, lange ist es her, die Arbeiterklasse bildeten und heute traurige Ich-AGs sind. Doch zugleich erschließt die Offenheit nicht, warum sich die Misere so rückhaltlos und unbarmherzig ausbreitet. Warum gönnt „All or nothing“ den Figuren keinen Augenblick der Pause?
Mike Leigh ist dafür bekannt, dass er eine Methode hat: Gemeinsam mit den Schauspielern entwickelt er das Drehbuch. Vor dem ersten Drehtag verstreichen Monate gemeinsamer Proben. Das ist nicht nur deswegen außergewöhnlich, weil sich Zeit im Filmbusiness sehr direkt mit Geld übersetzen lässt, sondern auch deswegen, weil Leigh so die Autorschaft und die Kontrolle verteilt. Die Figuren und der Plot entstehen durch Improvisationen, Gespräche und im Leerlauf dazwischen. Es gibt einige Regisseure, die Leighs Methode folgen: Andreas Dresen hat bei „Halbe Treppe“ ähnlich gearbeitet, Eoin Moore bei „Pigs will fly“, die dänische Regisseurin Annette K. Olesen bei „Kleine Missgeschicke“.
Es ist nun seltsam, dass bei so viel Freiheit und Muße im Entstehungsprozess ein so beklemmender Film entsteht wie „All or nothing“. Der Druck, in kurzer Zeit ein verwertbares Ergebnis zu erzielen, mag aufgehoben sein, doch der Druck, den der Film auf die Figuren ausübt, wird umso größer. „All or nothing“ lässt zirkulieren, was immer sich an Missständen denken lässt: Fettleibigkeit und Magersucht, ungewollte Schwangerschaft, gewalttätige Männer, Arbeitslosigkeit, sexuelle Belästigung, Armut, Tristesse der Vorstadt. Die Freiheit wohnt anderswo, und die Schönheit ist vor langer Zeit ausgezogen. Das entstellt die Figuren: körperlich, insofern ihre Konturen sich zwischen Fett verlieren, seelisch, weil sie grausam gegeneinander und gegen sich selbst werden. Vor allem Phil stellt sich zur Disposition, am eindringlichsten und am wenigsten widerrufbar, wenn er seine Frau und seine Tochter um ein paar Pennys bittet, in einer nächtlich-verwunschenen Szene, und schließlich das Geld zwischen den Ritzen des Sofas sucht.
Dann aber fährt sein Taxi durch einen Tunnel, und auf der anderen Seite wird es anders aussehen. Die Figuren rettet das Schwesternpaar Katastrophe und Katharsis, den Film nicht.
„All or nothing“. Regie: Mike Leigh. Mit Timothy Spall, Lesley Manville, Alison Garland u. a. Großbritannien/Frankreich 2002, 128 Min.