piwik no script img

■ Kleiner Exkurs in die Rollentheorie anläßlich der Einstellung des Honecker-ProzessesWir Spieler

Eine der berühmtesten Arbeiten des amerikanischen Soziologen Goffman trägt den programmatischen Titel „Wir spielen alle Theater“. Die Konstruktion der Wirklichkeit durch Rollenzuweisung und -einhaltung hält uns im Lot, vertreibt die bösen Geister, die stets bereit sind, uns ihre Botschaft von der Absurdität all unseres Tuns ins Ohr zu flüstern. In der Affaire Honecker haben wir alle tapfer unseren Part bis zu Ende gespielt. Klaus Kinkel, indem er unbeugsam die Herausgabe des geflüchteten Potentaten betrieb, das Landgericht, indem es allen Widrigkeiten zum Trotz das Hauptverfahren eröffnete (und damit auch die spätere Verfolgung kleinerformatiger Straftäter legitimierte), Honecker, indem er den Mauerbau als friedensrettende Tat verteidigte, die DDR- Bürgerbewegten des Jahres 1989, indem sie ihre Beißhemmungen artikulierten, die kritische Presse, indem sie den Prozeß als gegen die Menschenwürde gerichtete Farce entlarvte. Jeder hat sich gemäß den in ihn gesetzten Erwartungen betätigt, und das Ergebnis befriedigt alle. Wir haben den Komplex Honecker bewältigt.

Es war ein Spiel, bei dem alle Beteiligten gewonnen haben („Win-Win-Game“). Das befriedigt angesichts der Tatsache, daß wir es gewöhnlich im Alltagsleben wie in der Politik mit Nullsummenspielen zu tun haben, bei denen der eine gewinnt, was der andere verliert. Gewonnen hat der rechtsstaatlich begründete Strafanspruch und seine humanitäre Eingrenzung, die Forderung nach Gerechtigkeit und nach Milde. Keiner kann unserem Bundeskanzler mehr vorwerfen, er habe seinen einstigen Gast auf dem Regierungssofa in der Gefängniszelle verenden lassen. Aber auch keiner wird sich mehr mit dem schwarzen Gedanken herumschlagen müssen, ob es nicht vielleicht besser wäre, die Kleinen zu hängen, aber die Großen laufenzulassen. Außerdem – unser kleines Drama war gut gezimmert. Der Schurke hatte seinen großen Auftritt, ein hartherziger Richter kam zu Fall, und zum Schluß verkündete ein reitender Bote aus dem Verfassungsgericht, was jeder schon geahnt hatte: das gute Ende.

Wie so oft lag das einzige Problem beim Publikum. Mochten die Medien einschließlich der taz auch Tag für Tag Schlagzeilen zum Honecker-Prozeß produzieren und ihn getreulich bis zur Gangway des Lateinamerika-Liners begleiten: die Katharsis, Erschütterung und Reinigung der Massen, stellte sich einfach nicht ein, vor allem nicht bei den Einwohnern der „neuen Länder“. Weit davon entfernt, den Prozeß zum Anlaß einer eindringlichen Selbstbefragung zu nehmen, zeigten sich diese Undankbaren einfach uninteressiert. Hartnäckig jagten vor allem sie ihren kleinen Tagesgeschäften nach, und den Reportern fiel es schwer, überhaupt Stellungnahmen des „Manns auf der Straße“ zum Prozeß zu präsentieren. Die Leute weigerten sich sogar, den Erwartungen der Psychologen zu genügen und ihre eigene Schuld auf den großen Übeltäter abzuladen.

Nein, dieser Prozeß und sein Ende wird den notwendigen Streit über die Erblast nicht befördern, nicht im Osten und erst recht nicht im Westen. Um das große Weghören und Schweigen, selbstgerecht im Westen und verbittert im Osten, zu überwinden, bedürfte es der Erschütterung eingerasteter Rollenverständnisse. Das Moabiter Gericht genügte zwar rechtlichen, nicht aber geographischen Minimalbedingungen, denn die Richter stammten ausnahmslos aus dem Westen. Wenn es aber eine fundamentale Rollenverteilung im vereinten Deutschland gibt, dann die der BRDler als strafende und ernährende Eltern, die der DDRler als reuige und gehorsame Söhne und Töchter.

Vielleicht wird erst die Rebellion der Enkel uns die Augen darüber öffnen, daß es eigentlich in den 90er Jahren darum gegangen wäre, sich mit der Geschichte von 45 Jahren Opportunismus und Anpassung in beiden Deutschlands auseinanderzusetzen. Christian Semler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen