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Archiv-Artikel

Klappfahrrad statt Kuba

POLITISCHER GEFANGENER Wolfgang Lötzsch war einer der besten Radfahrer der DDR. Weil er zu wenig Staatstreue zeigte, durfte er nie bei großen Rennen starten. Stattdessen musste er in Einzelhaft

VON THOMAS PURSCHKE

„Es erfüllt mich mit einem gewissen Stolz, dass die Stasi solch große Angst vor mir hatte“, sagt Wolfgang Lötzsch heute. Für seine Sportlerkarriere war dieses Interesse allerdings tödlich. Der Chemnitzer, einer der besten Radfahrer der DDR, durfte niemals an einer WM, Olympischen Spielen oder der Friedensfahrt teilnehmen. Er war der DDR-Sportführung zu wenig staatstreu und zu unangepasst.

Dennoch gelang es Lötzsch, als nicht geförderter Athlet bei vielen Rennen in den 70er- und 80er-Jahren in der DDR und im Ostblock die dortigen Spitzenfahrer zu besiegen. Als er 1995 mit 42 Jahren seine Laufbahn beendete, hatte er insgesamt 552 Siege eingefahren.

Das Drama um Wolfgang Lötzsch begann 1972, kurz bevor er erstmals bei der Friedensfahrt sowie bei den Olympischen Spielen in München starten sollte. Der mehrfache DDR-Juniorenmeister wurde im Alter von 19 Jahren aus dem Nationalteam und seinem Sportclub in Karl-Marx-Stadt geworfen, weil er partout nicht in die Staatspartei SED eintreten wollte. Zudem behauptete der DDR-Geheimdienst, Lötzsch wolle in den Westen flüchten – was der aber gar nicht vorhatte. Lötzsch wurde fortan bis zum Mauerfall von bis zu 50 Stasi-Spitzeln – darunter auch sein damals bester Freund – sowie von zahlreichen Stasi-Offizieren überwacht. Dies alles fand er nach dem Mauerfall in seiner 2.000 Seiten dicken Stasiakte. Bis heute hat sich keiner bei ihm entschuldigt.

Am 3. Dezember 1976 eskaliert die Situation. In Karl-Marx-Stadt kommt es nachts zu einer Auseinandersetzung mit zwei Volkspolizisten, Anlass ist eine Ausweiskontrolle. Lötzsch platzt der Kragen. Vor lauter Frust auf den Staat, der ihm die sportlichen Karrierechancen genommen hatte, schimpft er: „Es ist typisch für die DDR, dass die Bürger keine Rechte haben. Alles scheiße hier in diesem Land.“ Als Lötzsch noch seine Sympathie für Wolf Biermann artikuliert, verhaften ihn die Vopos. Einen Tag später wird gegen Lötzsch ein Ermittlungsverfahren wegen „Staatsverleumdung“ eingeleitet, die Stasi übernimmt die Weiterbearbeitung.

Fensterlose Zelle

Es folgen zehn Monate Gefängnis in der berüchtigten Stasi-Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt, mit zahlreichen Verhören. Seine acht Quadratmeter kleine Zelle hat keine Fenster, stattdessen gibt es zwei Reihen Glasbausteine und einen Luftschlitz. Im Sommer ist die Schwüle in dem Verlies nicht auszuhalten. Die dicken Zellenwände lassen kaum Geräusche durch – die Kommunikation mit dem Zellennachbarn läuft über ein Klopfzeichen-Alphabet, manche verständigen sich auch über das Rohrsystem der Toiletten

Lötzsch und die anderen politisch Gefangenen haben zahllose Demütigungen durchzustehen. Die Häftlinge werden vom Wachpersonal nur mit ihrer Zellennummer angesprochen. Im kleinen Freigang-Verschlag darf Lötzsch „täglich zwanzig Minuten alleine an der frischen Luft im Kreis spazieren gehen und Kniebeugen machen“. Ein Posten auf einem Wachturm hat ihn dabei immer im Blick. Zudem klagt Lötzsch über Schlafstörungen, heftiges Herzklopfen und starke Kopfschmerzen, die er auf die ungenügenden Abtrainierungsmöglichkeiten zurückführt.

Am 18. März 1977 wird Lötzsch vom Kreisgericht Karl-Marx-Stadt wegen „Staatsverleumdung“ zu insgesamt zehn Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Seine Berufung wird vom Bezirksgericht verworfen. Doch Lötzsch gibt sich nicht auf. „Mit 3.000 bis 5.000 Kniebeugen, immer tausend am Stück und dann eine Stunde Pause und bis zu 400 Liegestütze über den Tag verteilt“, versucht er, „sich fit zu halten und zugleich zu verhindern“, dass sein „Sportlerherz auseinanderfliegt“. „Ich hatte ja den ganzen Tag Zeit gehabt in der U-Haft-Zelle“, sagt Lötzsch. Dadurch bekommt sein Herz, das um einiges größer als das eines Nichtsportlers ist, die lebenswichtigen Belastungsreize.

Einmal pro Woche darf Lötzsch, auf seine Beschwerde hin, ein bis zwei Stunden auf einem Rad-Ergometer trainieren – „Ein Klappfahrrad, das in einem feuchten, fensterlosen Duschraum stand.“ Nach der körperlichen Anstrengung, die sich in Grenzen hält, weil der klapprige Ergometer nicht für Trittbelastungen eines Sportlers ausgelegt ist und deshalb oft kaputt geht, darf sich Lötzsch „danach noch eine Stunde zum Regenerieren in seiner Zelle auf die Pritsche legen, was sonst vor der Bettruhe nicht erlaubt war“.

Ende April 1977, nach fast fünf Monaten U-Haft, protestiert er schriftlich wegen seiner Unterbringung und fordert, aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen zu werden: „Ich bin fünf Jahre in der Ausübung meines Sports behindert worden. In so einem Land will ich kein neues Leben anfangen. Mit dieser Politik bin ich nicht einverstanden.“ Daraufhin informiert der Stasi-Chef der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, Generalmajor Siegfried Gehlert, seinen Minister Erich Mielke in Berlin über Lötzsch. Er schreibt ihm: „Ich schlage vor, durch Sportmediziner die derzeitige und nach Verbüßung der Strafe zu erwartende sportliche Kondition des Lötzsch überprüfen zu lassen. Über die Ausweisung aus der DDR sollte dann entschieden werden, wenn die Sportmediziner bekunden, dass es Lötzsch nicht wieder zu sportlichen Höchstleistungen bringen wird.“

Heinz Engelhardt, damals Stasi-Offizier, erklärte im Jahr 2007 in der Filmdoku „Sportsfreund Lötzsch“ in alter Stasi-Diktion: „Im Grunde ging es einfach darum, Schaden abzuwenden, denn es wäre sicherlich wenig schön gewesen, Lötzsch hätte uns, der DDR, den Rücken gekehrt und wäre groß rausgekommen in der Bundesrepublik.“

Nach sechsmonatiger Einzelhaft kommt Lötzsch dann im Juni 1977 in das „Arbeitskommando“, in eine Zelle mit weiteren Insassen. „Darunter war auch ein Parteifunktionär, der im Suff eine Frau mit dem Auto totgefahren haben soll.“ In den vier Resthaftmonaten muss er hier Unkraut zupfen und mit den Abfällen aus der Knastküche Schweine und Hasen füttern.

Am 3. Oktober 1977 wird Lötzsch entlassen. Die Stasi notiert im Bericht über das Abschlussgespräch mit dem Strafgefangenen: „Lötzsch brachte seine negative Einstellung zur DDR erneut zum Ausdruck und erklärte, daß sich seine negative Meinung während seiner Haftzeit noch gefestigt hat.“

Training bei Minusgraden

In der Zeit bis zum Mauerfall bleibt es schwer für Lötzsch, nur langsam entspannt sich sein Verhältnis zum Staat. Er darf nur als Athlet von Betriebssportgemeinschaften (BSG) aktiv sein, aber nie als bezahlter Staats-Amateur in einem Leistungssportclub fahren. Er arbeitet als Gärtner, studiert, ohne seinen Abschluss zu machen, und fährt Fahrrad. Während die DDR-Spitzenfahrer im Winter in warme Länder ins Trainingslager reisen, Kuba, Äthiopien, Mexiko, hält sich Lötzsch bei Minusgraden in den sächsischen Mittelgebirgen fit. Trotz der erschwerten Bedingungen gelingt es ihm, regelmäßig Erfolge zu feiern, darunter die Siege 1985 bei Berlin–Cottbus–Berlin und 1986 beim damals weltlängsten Amateurradrennen Prag–Karlsbad–Prag sowie eine Bronzemedaille bei der DDR-Straßenmeisterschaft 1986.

Einmal hat Lötzsch auch Glück: In den 80ern wird er Testfahrer in der DDR-Rennradschmiede Diamant in Karl-Marx-Stadt, wo ihm sein Vorgesetzter viel Zeit für sein Radtraining einräumt. Lötzsch hätte es wohl nicht geschafft ohne solche Förderer und Freunde. Sie hatten kapiert: Lötzsch, der politisch nicht besonders interessiert war, wollte nur Radfahren.

Das ist bis heute so, um die 15.000 Kilometer schafft er im Jahr, und das mit 60, „über eine Million Radkilometer“ hat er insgesamt in den Beinen. 2012 wurde er für seine Zivilcourage in der Diktatur in die „Hall of Fame“ des deutschen Sports aufgenommen. Zudem engagiert sich der Zeitzeuge Lötzsch im Verein „Lern- und Gedenkort Kaßberg e.V.“ und führt Besuchergruppen durch das einstige Stasi-Gefängnis. Dass er die Schlüsselgewalt über die Gemäuer inne hat, wo das SED-Regime ihn und viele weitere politische Gefangene einst in die Knie zwingen wollte, „hätte er sich nicht träumen lassen“, sagt Lötzsch mit fröhlicher Miene.