Kinostart „Oben ist es still“: Driftende Inseln des Autorenfilms
Liebe tut zunächst immer und überall gleich weh: Nanouk Leopolds Film „Oben ist es still“ erkundet behutsam das Begehren eines Bauern.
Wie Menschen aufeinander bezogen bleiben und sich gleichzeitig nichts zu sagen haben: darum geht es unter anderem in „Oben ist es still“, dem neuen Film der niederländischen Regisseurin Nanouk Leopold.
Helmer, ein wortkarger Mann mittleren Alters, der alleine mit seinem bettlägrigen, uralten Vater auf einem Bauernhof lebt und arbeitet, kommt regelmäßig mit einem anderen Mann mittleren Alters in Kontakt, der auf den ersten Blick nur den Small Talk sucht, auf den zweiten jedoch einiges mehr; Helmer blockt ihn – und damit sein eigenes schwules Begehren – ab, nicht direkt unfreundlich, aber bestimmt, wieder und wieder.
Der geschäftliche Austausch, um den es bei den Begegnungen vorderhand geht, artikuliert auf sonderbare, fast groteske Weise die sexuelle Spannung, die sich anders nicht lösen lässt: der namenlose Andere ist ein Milchmann, mit einem gewaltigen Schlauch saugt er die von Helmer vorher im Stall abgemolkene Flüssigkeit in seinen Wagen.
Der erste Film Leopolds fand schon im Titel ein Bild für zwischenmenschliche Beziehungen, die man nicht so leicht zu fassen bekommt, weil ihnen Verankerungen, zum Beispiel in Familie und Heimat, fehlen. „Îles flottantes – driftende Inseln“ entstand 2001; es geht um drei Frauen in Amsterdam, die durchaus verzwickte Männergeschichten durcharbeiten – aber der hauptsächlich in provisorisch eingerichteten Altbauwohnungen und auf den belebten Straßen der niederländischen Hauptstadt spielende Film hat eine sympathische urbane Grundentspanntheit:
Liebe tut zunächst immer und überall gleich weh, aber Heilung findet man auf dem locker arrangierten Partnermarkt der Großstadt vielleicht doch etwas leichter als in den kleinstädtisch/großbürgerlichen (Selbst-)Gefängnissen, die Leopolds spätere Filme erkunden. Was nicht heißt, dass die Protagonisten und vor allem Protagonistinnen in „Guernsey“ (2005) oder „Wolfsbergen“ (2007) nicht auch einen Hang zum Driften haben; sie tun sich nur deutlich schwerer damit, den Anker zu lichten.
Archipel Autorenkino
Driftende Inseln – das beschreibt einerseits die Figuren der Leopold-Filme, zumindest ihren selten wirklich realisierten, eigentlich ohnehin nur asymptotisch zu erreichenden Idealzustand; andererseits trifft es vielleicht auch etwas an dem Kino, in dem sich die Regisseurin bewegt: am zeitgenössischen europäischen Autorenfilm als einer Kinematografie, der jeglicher Normalmodus abhanden gekommen ist, in dem sich jede Regisseurin mit jedem Film neu erfinden, in eine neue insulare Konstellation einschreiben muss.
Das klassische europäische Autorenkino früherer Jahrzehnte wäre in diesem Bild ein Kino, das zwar das filmindustrielle Festland mit seiner ausdifferenzierten Massenproduktion hinter sich gelassen hatte; das man aber immerhin noch als ein fest in der Kontinentalplatte verankertes Archipel beschreiben könnte, mit einem festen Abspielort in den Arthauskinos, ein Archipel, auf dem Regisseure wie Bergman, Angelopoulos, Fellini zwar nicht an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, aber immerhin über Jahrzehnte hinweg jeweils stabile Autorensignaturen entwickeln konnten.
Keine Toleranz für Dürrephasen
Heute funktioniert das immer weniger. Die Filmfestivals, die zum hauptsächlichen, für einige seiner Teilbereiche zum alleinigen Ort des künstlerisch ambitionierten Films geworden sind, handeln Autorenschaft zwar hoch; was ihnen jedoch fehlt, ist die Geduld, Filmografien auch in ihrer Ausdifferenzierung, über Dürrephasen und das eine oder andere fehlgeschlagene Experiment hinweg zu begleiten. Du bist immer nur so gut wie dein letzter Film, sagt man in Hollywood – auf das Autorenkino trifft das heute fast noch mehr zu: Jeder neue Film muss das auteuristische Projekt repräsentieren und im Sinne einer „Weiterentwicklung“ aktualisieren.
Verschärfend kommt hinzu, dass die bürokratische Trägheit der Fördersysteme, auf die das Autorenkino angewiesen ist, wirklich kontinuierliches Arbeiten von Anfang an verunmöglicht – das Ergebnis sind dann jene unzähligen, unfertig wirkenden Filmografien, die in zwei, drei Jahrzehnten auf kaum doppelt so viele Einträge kommen. Schon aufgrund ihrer fünf seit 2001 realisierten Langfilme ist Leopold innerhalb solcher Koordinaten eine Erfolgsgeschichte, die vom Festivalbetrieb auch als solche erzählt wird: Bereits anlässlich ihres vierten Films, „Brownian Movement“, widmete ihr das Festival Crossing Europe in Linz eine Retrospektive.
Wortkarge Alltagsdramen
In der Tat hat die Niederländerin gerade in ihren letzten beiden Filmen eine erstaunliche Entwicklung genommen: Sowohl „Brownian Movement“ als auch „Oben ist es still“ sind innerhalb des Produktionsumfelds, in dem sich Leopold bewegt, eher großformatige Filme, mit Budgets jenseits der zwei Millionen Euro. Und beide Filme entfernen sich auch ästhetisch von den kleinen Formen, die vor allem „Guernsey“ und „Wolfsbergen“ ausloteten, vom streng kadrierten, wortkargen Alltagsdrama, von der monadischen, neurotischen Verschlossenheit ihrer Protagonistinnen.
Sie streben dabei in sehr unterschiedliche Richtungen. „Brownian Movement“ – der aus der Physik entlehnte Titel beschreibt die temperaturabhängigen Bewegungen von Elementarteilchen, sozusagen die Bewegungsvektoren der driftenden Inseln – ist ein Versuch in Entgrenzung, ein Film, der die kleinen Irritationen der Vorgänger durch grobe, oft etwas ungelenke Brüche ersetzt. Es geht um eine junge, eigentlich in jeder Hinsicht perfekt integrierte Frau, die ihre Ehe für Sex mit – zumindest im Sinne ihrer filmischen Bearbeitung – unförmigen Männern aufs Spiel setzt.
Dem empathischen Blick auf dieses unheimliche Begehren, für das die Gesellschaft keine Begriffe hat, steht eine aufdringliche Bildsprache entgegen, die über den Körper der Hauptdarstellerin Sandra Hüller in durchaus unangenehmer Manier verfügt. Die Neurose hat sich von der Figuren gelöst und auf die Form verschoben.
Ein Schrank von einem Mann
„Oben ist es still“ ist schon deshalb ein weiterer Neuanfang, weil Leopold zum ersten Mal auf einen vorgängigen Stoff zurückgreift: Der Film ist eine – recht freie – Adaption des gleichnamigen, auch in deutscher Übersetzung greifbaren Romans von Gerbrand Bakker. Außerdem der erste Film mit einer männlichen Hauptfigur, eben jenem existentiell einsamen Bauern Helmer, hinreißend verkörpert vom kurz nach Abschluss der Dreharbeiten überraschend verstorbenen Jeroen Willems.
Viel verdankt der Film Willems, einem Schrank von einem Mann, dessen zerfurchtes Gesicht in düster-glänzenden Großaufnahmen von der Kamera regelrecht herausskulpturiert wird, auf eine Innerlichkeit verweisend, die sich nicht entäußern kann, deshalb aber noch lange keine verlorene ist.
„Oben ist es still“ ist mit Sicherheit Leopolds schönster, vermutlich auch ihr bester Film. Ein sanft rhythmisierter Reigen des Verzichts: unterdrücktes Begehren und tief sitzende Traurigkeit in den kammerspielartigen Innenszenen, dazwischen gelegentlich ein fast traumartiges Aufatmen in den mit der Handkamera gefilmten, gleitenden Außenszenen, bei den Schafen und Eseln.
Die Klaviermusik, die in einigen dieser Außenszenen einsetzt, scheint keinen Anfang und kein Ende, erst recht keinen dramatischen Höhepunkt zu kennen, nur eine potentiell unendliche Aneinanderreihung kleiner Stimmungsmodulationen. Die meisten Menschen müssen mit ihren Neurosen ein Leben lang klarkommen; dem Autorenkino der Gegenwart fehlt eine vergleichbare Geduld, es drängt auf verhärtende Zuspitzungen, wenn nicht inhaltlicher, so wenigstens formaler Natur. „In Oben ist es still“ gelingt es Leopold zum ersten Mal, das Driften ihrer Inseln auf Dauer zu stellen.
■ „Oben ist es still“. Regie: Nanouk Leopold. Mit Jeroen Willems, Henri Garcin u. a. Niederlande/Deutschland, 2013, 93 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut