Kino-Film "Freischwimmer": Heile Welt, böse Welt
In seinem neuen Film "Freischwimmer" schaut sich Andreas Kleinert in einer Kleinstadt um. Die Kamera gehört dazu. So wird auch mal in sie hineingewunken.
Die Kreisblende wird aufgezogen und gibt den Blick frei auf eine romantische deutsche Stadt wie aus dem Bilderbuch. Die Kamera fährt an den Läden vorbei, dem Bäcker, der Apotheke. Sie wird mit einem gut ausgeschlafenen "Guten Morgen!" begrüßt. In der Kleinstadt grüßt man sich, und die Kamera gehört dazu. Es wird in sie hineingewunken. Mit der subjektiven Kamera kommt Ironie ins Spiel, und die Musterromantik wird zu dem Klischee, das sie ist. Vor fünfzig Jahren begannen die Heile-Welt-Filme auf diese Weise - und blieben dabei. In Kleinerts Film wird die aufgesetzte gute Laune, die lärmende Fröhlichkeit, zur Belästigung - jedenfalls für zwei Außenseiter, die Helden des Films. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich dem zu entziehen. Der Loser-Schüler (Frederick Lau) schaltet sein Hörgerät aus. Damit wird es auch im Kino still. Der Deutschlehrer (August Diehl) ordnet gern Schweigeminuten an. Das hat den gleichen Effekt. Die beiden verbindet jedoch viel mehr. Es ist die Liebe zum Modellbau. Überm Schülerbett hängt die große Platte, auf der die Klischeestadt im Märklinformat nachgebaut ist, Schienenverkehr inbegriffen. Und die Unruhe hat der Lehrer im Griff, wenn er seine Klasse 1:1 nachbaut. Samt SchülerInnen. Die Modelle der Klischees sind es, die Realität schaffen. Eine ziemlich böse. Haben Sie gewusst, dass Schulmassaker von Lehrern veranstaltet werden?
Die eleganten Wendungen und Drehungen des Filmbuchs (Thomas Wendrich) sind entschieden zu loben, auch die sparsamen und wie nebenher gesprochenen Dialoge ("Sag mal, ist das deine erste Leiche?"). Die "Freischwimmer" sind weit weg vom jüngsten minimalistischen Stil, und Stille lastet nicht mehr, sondern befreit. Ein Wunder! Man wird geschockt und gepackt.
Gleichzeitig geht man auf Distanz. Schon deswegen, weil im Verlauf des Films gewiss wird, dass man sich mit niemandem identifizieren kann. Schon das wäre etwas, das jede Drehbuchwerkstatt rügen würde. Aber dieser Film ist eben nicht das Übliche. Holla! Es macht ja wieder Spaß, richtig hinzukucken! Als ob mir jemand die Brille geputzt hätte mit einem magischen Tuch.
In meiner Jubelkritik kann ich leider die Handlung nicht unterbringen, weil das gemein wäre. Empfehlen kann ich daher nur, sich überraschen zu lassen und den nächstbesten Halt zu suchen, wenn der scheinbaren Realität der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Aufpassen! Nicht mit denen sympathisieren, die Mitleid erwecken! Eine makabre Tour, und sie werden in einer Art Horrorkeller aktiv! Warum lässt die oder der passiv und geradezu masochistisch das Leid über sich ergehen, das ihr/ihm angetan wird? Nur darum, um in die Süße der irrealen Scheinwelt vom Anfang des Films zurückzukehren. Aus der Realität zurück in die Welt der Vorabendserie! Das geht hier, im Fall des wunderbaren Films von Andreas Kleinert ("Wege in die Nacht"), mit medialer Ironie ab. Eine Kreisblende dreht sich langsam zu und fokussiert dabei den Exoutsider beim Liebesschlusskuss mit der Schönsten von allen.
Noch mal: Als Zuschauer wird man mittels der subjektiven Kamera und dem subjektiven Ton am Film beteiligt. Der subjektive Schnitt (Gisela Zick) ist hinzuzufügen. Die Bildmontagen wenden sich unmittelbar an den, der kuckt. Meine Rezeption, mein Ding! Und eine Freude ist es auch, aktiv wahrzunehmen, wie sich die böse Realität hinter dem Heile-Welt-Bild enthüllt und - bitter, bitter - wieder verhüllt. Die "Freischwimmer" setzen zwar die Aquariumsfische im romantischen Fluss aus, sie selbst aber kehren, angepasst, ins Klischee zurück. Das ist tragisch und komisch zugleich. Werd ich jetzt melancholisch? Nicht bei diesem Film!
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!