Kinderlose in die Pflicht: Macht Kinder oder zahlt!

Leute ohne Kinder werden vom Staat bevorteilt und haben in den ersten 18 Jahren 145.000 Euro mehr als die Eltern eines Kindes, das künftig die Renten aller finanzieren muss. Das ist ungerecht.

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Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 07.06.22 | Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 22. April den Gesetzgeber bis zum Juni 2023 verpflichtet, das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ von 2021 nachzubessern. Für Familien mit mehreren Kindern soll deren Beitrag zur Pflegeversicherung reduziert werden.

Nach der geltenden Rechtslage beträgt der Basisbeitrag für alle 3,05 Prozent von ihrem Bruttogehalt, den sie sich mit den Arbeitgebern teilen. Die Kinderlosen zahlen 3,4 Prozent von ihrem Brutto-Gehalt, also 0,35 Prozent mehr. Den Kinderlosenzuschlag zahlen die Arbeitnehmer allein. Das Statistische Bundesamt hat die Differenz beim Pflegebeitrag mit Zahlen illustriert: 0,35 Prozent bei einem angenommenen durchschnittlichen Brutto von 3.500 Euro sind im Monat 12,25 und im Jahr 147 Euro. Das addiert sich im Verlauf der ersten 18 Jahre auf 2.646 Euro. Die Familie oder die Alleinerziehende mit einem Kind gibt im gleichen Zeitraum 148.000 Euro für das erste Kind aus. Mit anderen Worten: Dem Kinderlosen stehen in diesen 18 Jahren 145.354 Euro mehr zur Verfügung als den Eltern eines Kindes.

Sicher wird dieser Unterschied im verfügbaren Einkommen zwischen Kinderlosen und Eltern abgeschwächt durch die Mütterrente, die Anerkennung von Erziehungszeiten bei der Rente von Müttern, sowie die kostenlose Mitversicherung der Kinder in der Krankenversicherung der Eltern. An der grundsätzlichen und unsolidarischen Bevorteilung des kinderlosen Lebensmodells ändert sich dadurch nichts.

Sinkende Kinderzahlen führen zu steigenden Sozialabgaben

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt nun die Verteilung der sozialen Lasten innerhalb und zwischen den Generationen wieder auf die Tagesordnung. In der Bundesrepublik gilt bei den Sozialabgaben seit 1953 das Prinzip der direkten Umverteilung. Die jeweiligen Jungen sichern mit ihren Beträgen direkt die Kosten der Alten bei den Renten, der Pflege und der Krankenversorgung. Die Höhe der Beiträge hängt zunächst allein vom zahlenmäßigen Verhältnis der Jungen zu den Alten ab. Immer weniger junge Beitragszahler im Verhältnis zu Leistungen beziehende Alten führen deshalb zu steigenden Beiträgen der Jungen. Sinken die Kinderzahlen, steigen die Sozialabgaben – und umgekehrt.

Die Babyboomer (also die zwischen 1946 und 1964 geborenen) gehen jetzt nach und nach in Rente. Ihr steigendes Lebensalter, in dessen Folge die Kosten der Gesundheitsversorgung, der Pflege und der Rente fortlaufend steigen und die Tatsache, dass ihre Kinderzahlen sich aus vielen Gründen mehr als halbiert haben, führt zu immer weiter steigenden Sozialabgaben für die nachwachsenden Generationen.

Zusätzlich hat im gleichen Zeitraum die soziale Ausdifferenzierung der Lebensverhältnisse zu immer deutlicheren Ungleichgewichten bei den Sozialabgaben geführt. Die Zahl der Kinderlosen hat zugenommen, die Zahl der Alleinerziehenden hat sich erhöht und die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse ist gewachsen. All das führt dazu, dass für die große Mehrheit der Beitragszahler die Sozialabgaben steigen müssen, damit die Qualitätsanforderungen bei allen sozialen Dienstleistungen erfüllt werden können. Die Behauptung der Politik, sie wolle alle Sozialabgaben dauerhaft bei 40 Prozent vom Bruttogehalt begrenzen, ist bei einem Festhalten an den gegenwärtigen Strukturen des Sozialsystems nicht möglich.

Das gesamte Sozialsystem muss neu justiert werden

Schon in seiner Entscheidung von 2005 zum Extra-Kinderlosen-Pflegebeitrag hat das Gericht die Verkürzung der Wirkung aller Sozialpolitik auf den Lebenshorizont der mittleren und älteren Generationen kritisiert. Das Gericht verlangt auch in seiner neuen Entscheidung, dass die Lebenschancen der heute Jungen und vor allem der Kinder in ihrem Erwachsenenleben nicht durch die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der jetzt schon Älteren eingeschränkt werden dürfen. Ein solches Gesetze-Machen zu Lasten einer zukünftig eingeschränkten Freiheit der heute jungen Generationen ist aus Sicht der Richter nicht mit dem Grundgesetz und seiner ewigen Garantie der freiheitlichen Grundrechte vereinbar. Deshalb verlangt das Gericht, die ungleiche Gewichtung zwischen Beitragszahlern mit und ohne Kinder beim Pflegebeitrag besser auszutarieren.

Familien oder Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern verzichten auf eigene Lebensqualität zugunsten ihrer Kinder. Sie reduzieren durch ihren Aufwand bei der Kindererziehung ihre soziale Absicherung im Alter. Ihre Kinder finanzieren in ihrem späteren Leben auch die Renten der Kinderlosen, während manche Mütter in der Grundsicherung landen.

Hier muss der Gesetzgeber jetzt Abhilfe schaffen.

Viele Alte und immer mehr Hochbetagte, zu wenige Kinder, keine entlastende Einwanderung, immer mehr Single-Haushalte, immer mehr Berufstätige, doppelt und dreifach belastete, faktisch alleinerziehende Frauen mit prekären Jobs – das sind die Fakten. Wenn die Politik diese Fakten in das Sozialsystem einbauen will, dann reicht das Herumspielen mit einem symbolischen Hin- und Herschieben von Prozenten wie beim Kinderlosenzuschlag nicht mehr aus. Stattdessen müsste auf der Basis aller zur Umverteilung verfügbaren Mittel mit strukturellen Reformen das gesamte Sozialsystem neu justiert werden Die Voraussetzungen für einen solchen Schritt jenseits ideologischer Scheuklappen sind bestens. Umfassender als je zuvor stehen, digital aufbereitet, alle Daten für eine umfassende Sozialplanung zur Verfügung.

Ein fakten- und evidenzbasiertes Sozialsystem aus einer Hand

Damit könnte man die sektoralen Aufteilungen, die heute die Sozialpolitik bestimmen, hier die Gesundheit, dort die Pflege, obendrauf die Rente und dann auch noch die Familienpolitik, in ein fakten- und evidenzbasiertes Sozialsystem aus einer Hand zusammenführen. In einem solchen System könnte eine Effizienzrevolution in allen sozialen Dienstleistungen ausgelöst werden.

Sicher müssten dazu in vielen Bereichen eingefahrene Wege verlassen werden. So müsste in der Pflege der Alten die sektorale Aufspaltung in stationäre, ambulante und familiale Zuständigkeiten aufgehoben, die sinnlos konkurrierenden Finanzierungssysteme zwischen der Pflegekasse und den Krankenkassen abgeschafft und eine Pflege aus einer Hand neu aufgestellt werden. Maßstab für einen solchen Schritt, könnte dabei sein – wie heute in Schweden und Dänemark selbstverständlich – dass jeder zu Pflegende alle Pflege die er braucht als öffentlich organisierte Dienstleistung erhält.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann als eine aus den Grundrechten des Grundgesetzes abgeleitete Verpflichtung der Politik zu einer grundsätzlichen Revision der Sozialpolitik gelesen werden. Eine zusätzliche Entlastung für die Kinderreichen beim Pflegebeitrag mag für eine vordergründig gerechtere Verteilung der Pflegekosten sorgen, die finanziellen Vorteile eines Lebens ohne Kinder heben sie nicht auf.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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