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■ Keine KonzepteVision Jugoslawien

Für große Russen wie Leo Tolstoi oder Alexander Puschkin blieb die moslemische Welt immer eine Bedrohung – ob in Tschetschenien oder in Bosnien. Sie schrieben Liebesgedichte auf ihre Dolche und zogen in den Kampf wie zu einem Stelldichein. „Schlafe nicht, Kosake“, dichtete Puschkin zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als er seinen Militärdienst in der zaristischen Kaukasus-Armee absolvierte, „denn in der Dunkelheit der Nacht macht sich der Tschetschene ans Ufer.“ Und aufgeschreckt von den Meldungen, die damals aus dem Osmanischen Reich an seine Ohren drangen, warnte der große Dichter: „Lieber Gott, hab auch Mitleid mit den Serben, schuldlos werden ihnen von den moslemischen Wölfen die Köpfe abgeschlagen ...“

Für manche Russen gelten diese Worte noch heute. Das Blatt der Nationalpatrioten, Djen, zitiert heute Puschkin, als sei die Zeit vor zweihundert Jahren stehengeblieben, und ruft Freiwillige zu den Waffen, um den „Genozid an den serbischen Brüdern“ in Bosnien zu verhindern. Ehemalige Generäle der Roten Armee verschieben Kriegsmaterial nach Belgrad, Söldner und Militärberater bieten ihre Dienste an. Und die politische Führung schaut zu. Selbst Außenamtschef Andrej Kosyrew, innerhalb der neuen Nomenklatura noch einer der weltoffenen Politiker, erklärt trocken, Moskau werde sich nicht mit der Rolle als „kranker Mann in Europa“ abfinden. Man werde „die fundamentale Frage nach der Zukunft Rußlands“ selbst in Angriff nehmen. Rechtskonservative Kommentatoren deutscher Gazetten schlußfolgern daraus: Der Kreml wird seine Hegemonieansprüche auf dem Balkan wieder ausdehnen, „allerdings nicht mehr mit Lenin und der Roten Fahne, sondern als Schutzmacht der Orthodoxie und des Slawentums“ (Welt). Rußland redet mit bei der Neuaufteilung des nördlichen Balkans.

In London, Paris und Moskau wird der jugoslawischen Staatsidee nachgetrauert und sieht man in einer neuen Konföderation Südosteuropas den einzigen Weg, weiteres Blutvergießen zu verhindern. In Deutschland vergessen die Politiker dagegen zu oft, daß in diesem Jahrhundert gerade diese europäischen Großmächte mehrmals den Versuch unternahmen, die Balkanvölker in einer übergeordneten Einheit zu binden. Den Westmächten war es bereits zu Titos Zeiten wichtiger, daß sich die kleinen Völker der Region zu einer größeren Gemeinschaft, sprich Jugo-Slawien, verbanden, anstatt sich in unzählige Kleinstaaten aufzusplittern. Fünfzig Jahre nach Jalta hat Europa immer noch keine realisierbaren Konzepte für die Vielvölkerregionen in seiner Osthälfte entwickelt. So sind die überholten Ordnungsvorstellungen über eine balkanische Völkergemeinschaft wieder hoch im Kurs und malen sich nicht nur die Russen ein neues Jugoslawien aus – ein „modernes“ und „demokratisches“, wie es diesmal werden soll. Karl Gersuny, Wien

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