Kein Sondertribunal für Kenia: Politikern droht Verfahren in Den Haag
Regierung der Nationalen Einheit in Kenia einigt sich nicht auf Gründung eines Sondertribunals zur Aburteilung der Verantwortlichen für die massive Gewalt nach den letzten Wahlen.
NAIROBI taz | Die Chancen, dass sich kenianische Politiker vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verantworten müssen, sind stark gestiegen. Die Regierung von Präsident Mwai Kibaki und Premierminister Raila Odinga schaffte es auf einer Marathonsitzung am Donnerstag erneut nicht, ihr Versprechen zur Gründung eines Sondertribunals zu halten, auf dem die Verantwortlichen für die blutigen Unruhen mit über 1.000 Toten nach der Wahl von Ende 2007 abgeurteilt werden sollen.
Stattdessen soll Kenias bestehende Justiz das machen, verkündete Präsident Kibaki nach Abschluss der Sitzung. "Sie (die Verdächtigen) werden hier vor Gericht gestellt", sagte er und wies Vorwürfe zurück, die Idee eines Sondertribunals sei nun aufgegeben worden: "Wir haben sie nicht aufgegeben, weil wir sie nie in die Welt gesetzt haben."
"Die kenianische Regierung hat Gerechtigkeit für die Opfer der Wahlgewalt in 2008 wieder hinausgeschoben", reagiert Ben Rawlence von Human Rights Watch (HRW). "Das ist nicht, was die Kenianer erwarteten und was die Regierung versprach." Eine unabhängige Untersuchungskommission unter Richter Philip Waki hatte Ende letzten Jahres zahlreiche hohe kenianische Politiker als Urheber der Gewalt genannt und ein Sondertribunal für sie gefordert.
Die Wahlen in Kenia Ende 2007 waren Anlass für den schwersten Gewaltausbruch in der Geschichte des Landes. Weil Präsident Mwai Kibaki vom Volk der Kikuyu trotz massiver Unregelmäßigkeiten den Wahlsieg für sich reklamierte, gingen Anhänger des Oppositionskandidaten Raila Odinga vom Volk der Luo auf die Straße. Die Polizei schlug die Proteste nieder, es begannen Pogrome gegen Kikuyu, und schnell organisierten Milizen beider Seiten ethnische Morde und Vertreibungen. Über 1.100 Menschen starben, über 650.000 wurden vertrieben. Im Februar 2008 wurde Odinga Premierminister unter Kibaki in einer Regierung der Nationalen Einheit.
Die Waki-Kommission hatte außerdem dem ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, der im Februar 2008 die amtierende Regierung der Nationalen Einheit in Kenia ausgehandelt hatte, eine vertrauliche Liste mit den wichtigsten Verantwortlichen für Gewalt übergeben. Die sollte er dem ICC in Den Haag weiterreichen, falls das Sondertribunal in Kenia nicht zustandekommt.
Annan hat tatsächlich ICC-Chefankläger Luis Moreno Ocampo eine Liste von zehn Namen übergeben, darunter vermutlich sieben kenianische Minister. Daraufhin einigte sich Kenias Regierung Anfang Juli mit Ocampo, dass der ICC die Ermittlungen übernimmt, falls Kenia nicht bis spätestens August 2010 ein Tribunal gründet. Kenianische Menschenrechtsgruppen haben außerdem eine Liste von 219 Menschen erstellt, die Gewalt geplant, finanziert oder ausgeführt haben sollen.
Eine Umfrage vorigen Monat zeigte, dass 68 Prozent der Kenianer die Politiker auf der Liste nach Den Haag verfrachtet sehen wollen. Ihrem eigenen Rechtssystem trauen sie nicht. "Warum einen Anwalt mieten, wenn man einen Richter kaufen kann", lautet ein geflügeltes Wort. Gerichtsverfahren ziehen sich jahrelang hin, derzeit liegt der Rückstand bei mehr als 860.000 Prozessen. Ministerpräsident Odinga hat versprochen, die Justiz schnell zu reformieren. Kenianer glauben aber nicht, dass die Worte "Justiz", "schnell" und "Reformen" in denselben Satz passen.
Auch eine Mehrheit im Parlament scheint eine Aburteilung in Den Haag zu bevorzugen. "Wenn Premierminister und Präsident nicht imstande sind, Einigkeit in der Regierung über diese wichtigen Dinge herzustellen, ist es vielleicht besser, die ganze Regierung zu feuern und Neuwahlen auszuschreiben", meint Parlamentarier Bonny Khalwale, Vorsitzender des Haushaltsausschusses und prominenter Gegenspieler der Regierung.
Dass das Sondertribunal nicht vorankommt, gilt als Zeichen, dass Kibaki und Odinga ihre jeweiligen Minister nicht mehr im Griff haben. "Drei lautstarke Kabinettssitzungen haben nichts gebracht", meint Kommentator Kwamchetsi Makokha von der Zeitung Daily Nation. "Es wurde bloß deutlich, dass die zwei keine Kontrolle mehr über ihre eigenen Truppen in der Regierung haben."
Die Regierung hat zwar eine Wahrheits- und Versöhnungskommission gegründet, die nicht nur die Gewalt von 2008 untersuchen soll, sondern auch weiter zurückliegende Verbrechen. Aber es gibt Zweifel über ihren Vorsitzenden, den ehemaligen Diplomaten Bethuel Kiplagat. Er war eine wichtige Person in der ehemaligen Diktatur von Daniel arap Moi. Es wird vermutet, dass das Moi-Regime für verschiedene politische Morde verantwortlich war und Kiplagat darüber Bescheid wusste.
Kenianer wollen zwar eine Bestrafung der Verantwortlichen für Gewalt, haben aber auch Angst, dass Gerichtsverfahren für neue Unruhe sorgen könnten. Die Lage im Land ist noch immer angespannt, und Ende 2012 stehen die nächsten Wahlen an, die manche als Startsignal für einen Bürgerkrieg fürchten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid