piwik no script img

Kefah Ali Deeb NachbarnZwei edle Städte, deren Herzen für alle Platz haben. Berlin und Damaskus

Foto: Regentaucher

Mit neuen Hoffnungen und Träumen feiere ich zum vierten Mal Silvester mit Berlinerinnen und Berlinern.

Wenn ich heute auf die vergangenen Jahre in Berlin zurückblicke, merke ich, wie ich diese Stadt liebgewonnen habe. Berlin ähnelt Damaskus sehr, ist aber gleichzeitig ganz anders. Diese Erkenntnis erklärt mein Festhalten an Berlin und meine ständige Sehnsucht nach Damaskus.

In Berlin empfinde ich, ebenso wie in Damaskus, keine Einsamkeit. In beiden Städten prägen Zuversicht und Wärme die Gesichter der Fremden. Zwei edle Städte, deren Herzen für alle Platz haben. In beiden Städten gibt es alte Sträßchen, die sich zwar voneinander unterscheiden, wobei jede Gasse in Damaskus und jedes Sträßchen in Berlin ein eigenes Narrativ und eine ereignisreiche Gegenwart hat.

In Berlin schlafen Obdachlose unter Brücken und in U-Bahn-Stationen. Ein Bettler saß am Straßenrand und hatte eine Dose vor sich hingestellt, auf der Namen verschiedener Drogen standen. Er hielt ein Schild mit der Beschriftung: „Wer von euch ist der großzügigste Drogenabhängige?“ Ein anderer Bettler saß in einer gegenüberliegenden Ecke hinter seiner Dose, auf der Namen verschiedener Religionen standen. Hinter ihm hing ein Schild mit der Aufschrift: „Welche Religion ist großzügiger?“ Die Dose des ersten Bettlers schien voller als die des anderen zu sein. Er hatte offensichtlich mehr Glück.

In Damaskus hocken die Obdachlosen auf Gehwegen, während die Bettler in den Straßen umhergehen und gelegentlich sogar an Türen klopfen. Die meisten Bettler in Damaskus sind noch Kinder, die niemanden haben, der für sie sorgt, weshalb sie die Schule verlassen haben. Dazu ist in Damaskus eine neue Kategorie von Obdachlosen entstanden, nämlich die der Kriegsobdachlosen.

Was beide Städte außerdem verbindet, sind die Verkehrsstaus. Dank meines Fahrrads entkomme ich dem Berliner Verkehrschaos ziemlich leicht. Im Sommer genieße ich die angenehmen Temperaturen, im Winter werde ich „klatschnass“. In Damaskus zwang mich das Berufsverkehrschaos, im Sommer weite Strecken in der glühenden Mittagshitze zu Fuß zurückzulegen, und wenn ich mein Ziel erreicht hatte, war meine Haut durch die sengende Sonne wie gegrillt. Im Winter sah ich regelmäßig aus, als hätte ich mich in meinen Klamotten geduscht.

In Berlin gibt es Flüsse, Kanäle, Seen und Ufer voller Leben. In Damaskus gibt einen Fluss namens Barada, an dessen Ufern das Leben tobte, bevor der Krieg es niederstreckte.

Die Fünf­tage-vorschau

Di., 9. 1.

Sonja Vogel

German Angst

Mi., 10. 1.

Svenja

Bednarczyk

Nullen und Einsen

Do., 11. 1.

Ambros Waibel

Mittelalter

Fr., 12. 1.

Hengameh Yaghoobifarah

Habibitus

Mo., 15. 1.

Fatma Aydemir

Minority Report

kolumne@taz.de

Ich schließe meine Gedanken mit den folgenden Worten ab: Damaskus / Berlin, Berlin / Damaskus, zwei Hauptstädte zum Leben, zum Lieben und für die Zukunft.

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen