Katrin Seddig Zu verschenken: Unterwegs im Zug. Die Sonne scheint, es ist Mai. Ich bin nicht unglücklich
Ich sitze im Zug von Hamburg nach Kiel und schreibe meine Kolumne. Es ist keine glamouröse Reise. Der Alltag rast an mir vorbei. Die Sitze haben keine Tische vor sich, ich muss auf meinen Knien tippen. Es gibt auch keine Steckdosen, die Ladung meines Handy-Akkus geht dem Ende entgegen. Das sind so die Probleme heute, morgen wird es andere geben, und dann werden mir diese lächerlich vorkommen und sie kommen mir jetzt schon lächerlich vor.
Auf dem Weg von der Holstenstraße bis zum Dammtor haben mich drei Bettler*innen angesprochen. Zwei Männer, sie waren ziemlich erledigt, man sah es ihnen an. Am Dammtor eine Frau, ich war einigermaßen überrascht, denn ich hätte sie nicht als Bettlerin erkannt. Nicht an ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrer Haltung. Und warum soll man das auch können? Sie hatte einen schmutzigen Verband um die Hand gewickelt, das hätte ein Hinweis sein können.
Ich sagte, „ich weiß gar nicht, ob ich Kleingeld habe“. Sie sagte, „das hat heute doch kaum noch jemand“ und lächelte. Ich dachte, das könnte ich sein. Ich gab ihr was. Den Männern in der S-Bahn hatte ich nichts gegeben. So wähle ich aus, jeden Tag, und es geht auch nicht anders.
Mein Einkommen ist so gering, dass ich davon meine Kosten nicht decken kann, aber ich laufe in einem schicken Mantel herum und ich habe ja Kleingeld in meinem Portemonnaie. Ich habe.
Das sind diese Widersprüche. Ich bin mir selbst unsicher über mich und meine Lage. Jetzt sitze ich im Zug nach Kiel, die Sonne scheint, wir haben eben Elmshorn verlassen, Leute sind eingestiegen, ein Junge telefoniert mit einem Kumpel. Das Telefon ist laut gestellt, deshalb kann ich sagen, es ist ein Kumpel, mit dem er spricht. Das ganze Gespräch ist mithörbar, von allen. Sie reden über eine junge Frau, die offenbar ein Kind von diesem Jungen bekommen hat.
„Ich hab sie getroffen, Alter, ich geh da so die Straße lang, da geht sie mit ihrer Mutter und mit X (das Kind offensichtlich), und sagt mir nicht ‚Hallo‘, nix. Geht einfach vorbei, als ob sie mich nicht kennt, Alter, das ist mein Kind, Alter!“
Alter, der Kumpel, stimmt ihm zu. Sie scheinen beide kurz betrübt. Der Junge redet weiter, über eine andere Frau jetzt, nennt ihren Namen (ich nicht), sagt, „ich hab mit der geschlafen, aber sie war voll schlecht, Alter.“
Ich denke, er denkt wahrscheinlich, dass er voll gut ist. Dann geht das Gespräch so weiter und ich denke, das ist ein Regionalzug nach Kiel, so ist das, so geht das hier. Leute packen ihre Stulle aus, reden öffentlich über Geschlechtsverkehr.
Als der Junge aussteigt, an mir vorbeigeht, kann ich ihn mir ansehen, er ist kein Mann, er ist ein Junge, er hat etwas nach innen Gedrücktes an sich, seine Kleidung ist ein Witz, sicherlich hat er viel Zeit darauf verwandt, sie auszusuchen, aber sie ist ein Witz, er ist ein Witz und vielleicht weiß er es nicht, aber er ahnt es. Und er hat ein Kind und das Kind soll ihn nicht kennen. Er trifft es auf der Straße, sieht es, aber er darf es nicht kennen. Draußen Lärmschutzwände, ein beschrankter Bahnübergang. Wrist. Er ist er und er weiß vielleicht nicht, wie er anders sein soll, ob er das überhaupt will und wie es richtig wäre, dabei geht es ihm nicht anders als mir.
Ich habe meinen schönen Mantel und kann einer Frau, die ich sein könnte, ein Geldstück schenken. Es scheint mir nichts weiter zu sein und nichts zu bedeuten. Es ist Ungerechtigkeit, es ist Traurigkeit und die Sonne scheint, es ist Mai. Ich bin nicht unglücklich.
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