Kataloge und Kinder : Jahreszeitenkram
Es gibt zwei Dinge, an denen ich besonders merke, wie die Zeit vergeht: Modekataloge und Kinder. Kaum hat man das Gefühl, der Sommer könnte gerade losgehen, da kommen die Kataloge mit Herbst- und Winterklamotten. Ein böswillig dumpfes Gefühl steigt mir dann in alle Körperteile, ein Gefühl wie ein Plattenbau, und ich denke, hallo, ich war erst dreimal schwimmen, und ihr schickt mir scheiß Wollpulliwerbung. Dafür werden dann kurz nach Weihnachten die ersten Bikinikataloge kommen und ich werde denken, hallo, es gab doch bisher gerade mal drei Schneeflocken, Winter ist doch anders.
Mit den Kindern ist es natürlich nicht so. Erstens kommen Kinder nicht mit der Post, und ich kann sie nicht ins Altpapier werfen. Zweitens verbreiten Kinder keine stumme Untergangsstimmung wie Kataloge, sondern sie strotzen und rotzen das Leben nur so aus sich raus. Wenn ich Freunde mit ihren Kindern treffe, denke ich jedes Mal, hui, bei denen geht aber alles ganz schön schnell. Plötzlich kann Sophie-Leon-Emilia-Noah laufen, und quasi am nächsten Tag ist schon Einschulung. In derselben Zeit habe ich gerade mal die drei Akkorde von „Knockin’ on heaven’s door“ auf der Gitarre gelernt, und wenn ich dazu singen will, muss ich immer noch aufhören zu spielen. Fortschritt ist anders.
Wenn man sich diesem ganzen Jahreszeitenkram meditativ entziehen will, kann man das bei Google Street View machen. Keine Ahnung, wozu man das eigentlich sonst benutzen soll. Es gibt Adressen, da ist bei Google immer Frühling, und es gibt welche, da ist Herbst. Bei mir zu Hause, also südliches Kreuzberg, ist immer strahlender Sonnenschein, aber wenige Straßen weiter liegt schon wieder Schnee. Das schaue ich mir an. Und dann schalte ich um auf die Straßenkarte, alles ist grau-gelb, Nirvana, alles wird eins. So geht meine Meditation, Scheiß auf die Kataloge. MARGARETE STOKOWSKI