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taz FUTURZWEI

Kann man Transformation lernen? Im Klassenzimmer der Zukunft

Der Lehrer Philip Elsen baut mit seinen Schüler*innen das erste Klassenzimmer nach Kriterien der Kreislaufwirtschaft – Besuch im Raum R.55 am Berliner Beethoven-Gymnasium.

Changemaker und Lehrer aus Leidenschaft: Philip Elsen Foto: Alena Schmick

taz FUTURZWEI | Richtig sauer kann Philip Elsen werden, wenn jemand behauptet, dass drängende Probleme an deutschen Schulen sich mit der Anschaffung von Tablets und anderer technischer Ausstattung lösen lassen. Elsen (45) ist Politiklehrer und Fachbereichsleiter für Gesellschaftswissenschaften am Beethoven-Gymnasium in Berlin-Lankwitz, und er sagt: „Es geht nicht um das Know-how, wenn Schüler auf ihre Zukunft vorbereitet werden sollen, sondern um das Know-why.“ Sein gerade noch ernstes Gesicht verändert sich nun in ein strahlendes. Die Frage nach dem „Warum?“ sieht er als sehr wesentlich an, wenn junge Leute gesellschaftliche Transformationsprozesse mitgestalten sollen, um den Klima-, Ressourcen- und Umweltproblemen zu begegnen.

Gut, dann lautet die Frage: „Warum?“

„Weil es cool ist und Spaß macht, wenn man Freiheit und Selbstwirksamkeit erfahren darf“, sagt Elsen, der selbst dreifacher Vater ist. Auch Offenheit, Empathie und Wertschätzung seien Werte, die Schule auch vermitteln sollte, damit sich die jungen Erwachsenen später konstruktiv Herausforderungen entgegenstellen können. Ja klar, Wissen sei auch wichtig, doch nur im Tun allein, im Gestalten und Verändern, ließen sich neue spannende Konfigurationen schaffen. Das mache gute Laune – sogar in der Schule.

Schule von innen heraus verändern

Für eine zukunftsfähige Schule, in der und für die man sich begeistern kann, unternimmt Elsen seit vielen Jahren eine ganze Menge. Er veranstaltete zusammen mit seinen Schüler*innen berlinweite und schulübergreifende Kongresse zu Themen der Nachhaltigkeit und der künftigen Arbeitswelt. Er initiierte gemeinsam mit Schüler*innen den Politik-Podcast Zukunftsgeflüster, der mittlerweile 27 Folgen zählt. Er drehte mit ihnen Videos, zum Beispiel über Kinderarmut. Gemeinsam gingen sie, Elsen und seine Schulklassen, in die Welt und luden Expert*innen aus Kunst, Wissenschaft oder zivilgesellschaftliche Institutionen in ihre Schule ein. So machten sie die alten Mauern des 1913 errichteten Schulgebäudes durchlässig.

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Nun hat Elsen auch noch proaktiv unüberwindbar scheinende Hürden des starren Systems Schule überwunden. Der Raum R.55 wurde von Elsens Zusatzkurs „Politik und Wirtschaft“ zum ersten zirkulären „Klassenzimmer der Zukunft“ umgebaut. Zirkulär bedeutet, dass alle Rohstoffe so geplant und verwendet worden sind, dass sie irgendwann wiedergenutzt oder komplett abbaubar in den Kreis zurückgegeben werden können. So implementierte dieser Zusatzkurs ein Stück Neues mitten im Bestand und veränderten damit die Schule und die Lehre von innen heraus.

„Wie kann man kritisches und politisches Denken in bestehende Formate integrieren und dabei Demokratie fördern? Das ist eine Frage, die mich schon immer angetrieben hat“, sagt Elsen, nimmt sich mit der einen Hand die Lesebrille von der Nase und greift mit der anderen Hand an seinem Dreitagebart. Im Raum R.55 manifestierte er nun die Grund- und Leitsätze seiner Lehre und verband sie mit dem wichtigsten Bestandteil des Lehrerberufes: Leidenschaft.

Zirkulär und Cradle-to-Cradle

Meistens sind Bauherren psychisch und finanziell ruiniert, wenn sie ihr Gebäude präsentieren. Elsen hingegen ist froh und stolz, dass er das erste zirkuläre Klassenzimmer Deutschlands zeigen darf. „Hier schau! Der Boden ist so geil! Wie zu Hause im Wohnzimmer!“, ruft er, kniet sich in seinem perfekt sitzenden blauen Herrenanzug hin und streichelt den Belag aus recycelbaren und nachwachsenden Rohstoffen in Holz-Optik. Dann geht er zur Wand und berührt diese ebenfalls sanft: „Diffusionsfähig, Allergiker-geeignet, ohne Konservierungsstoffe und ohne Lösungsmittel. Der Hammer!“ Auch die alte Decke des Raumes wurde herausgerissen und durch neue Deckenplatten eine Optimierung des Lichts und der Akustik erreicht.

Die Schulmöbel sind alle Cradle-to-Cradle-zertifiziert, das heißt, sie werden nach ihrer Schulzeit wieder in einen Materialkreislauf rückgeführt und gelten somit als die nachhaltigsten Schulstühle weit und breit. Nahezu alle Materialien für Boden, Decke und Möbel wurden von Firmen gesponsert: „Diese Firmen haben sich mit uns auf den Weg gemacht und Teile ihres Sortiments gegeben. Jetzt supporten wir sie, nennen deren Namen, sonst machen die das kein zweites Mal und kehren zurück zum linearen Prozess. Das wäre überhaupt nicht schön“, sagt der vorausschauende Lehrer.

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Eine Etage über dem „Klassenzimmer der Zukunft“, auf einem Balkon, wurde ein Solarkraftwerk installiert. An sonnigen Tagen ist der Raum komplett energieautark, sogar wenn alle ihre Smartphones aufladen und Licht sowie das Smartboard eingeschaltet sind. „So viel Saft nur durch ein kleines Balkonkraftwerk. Wie cool wäre es, wenn wir so etwas überall hätten“, sagt Elsen. Das Solarpanel ist mit einer App verbunden, sodass man jederzeit sehen kann, wie hoch der Energieverbrauch ist, wie viel Energie in das Netz eingespeist wird und wie viel Geld man spart. „Das haben die Mathe-Freaks unter meinen Schülern errechnet. Und ohne, dass das geplant war, haben wir interdisziplinär gearbeitet“, erzählt Elsen.

Auch bei Nachhaltigkeitszielen über Ästhetik nachdenken

Über zwei ganze Schuljahre hinweg entwickelten und planten die Schüler*innen dieses Pilotprojekt. Sie gingen gemeinsam den Weg von der linearen Wirtschaft zu einer Kreislaufwirtschaft, bestimmten Kriterien und Aspekte der Nachhaltigkeit und diskutierten über die Rolle von Design und Ästhetik. Elsen erinnert sich: „Wir fragten uns, wie wir das Klassenzimmer nach Kriterien der Kreislaufwirtschaft so gestaltet bekommen, dass es nicht nur seinem Zweck dient, sondern dass darin Lernen Spaß macht und man Lust hat, hierher zu kommen. Jede Bank, jedes Start-up weiß doch, wie wichtig es ist, dass der Eingangsbereich so gut aussehen muss, dass man sich sofort wohlfühlt. Nur wenn man über Schulen redet, spricht man die ganze Zeit über Toiletten, die zu funktionieren haben. Man sagt, die Schulen seien die Kathedralen der Zukunft, come on! Wir müssen unbedingt auch bei den Nachhaltigkeitszielen über Ästhetik nachdenken, sonst haben wir keine Chance.“

Auch die Schulleiterin Gunilla Neukirchen sagte: „Das können wir machen“ und unterstützte bei den Genehmigungsverfahren für die Solaranlage oder für spezielle Materialien. Sie räumte diesem Zusatzkurs eine hohe Relevanz ein und zeigte großes Vertrauen, etwas Neues auszuprobieren. „Diese Wertschätzung der Direktorin war eine extreme Motivation für alle Beteiligten“, sagt Elsen und weiter: „Mutige Menschen braucht man. Denn die Strukturen sind bräsig und nur schwer zu verändern. Man muss die Löcher, kleine Handlungsspielräume, erkennen und nutzen. Leonard Cohen hatte wirklich Recht, als er sang: ‚There is a crack in everything, that's how the light gets in.‘“

Die Cradle-to-Cradle NGO unterstützte die gymnasiale Umbautruppe ebenfalls. Auch sie ist der Meinung, dass das Klassenzimmer noch große Strahlkraft weit über Lankwitz hinaus entfalten wird. Elsen beginnt jedoch zunächst einmal im eigenen Haus bei seinen Kolleg*innen. Dabei mag er keine Ermahnungen mit erhobenem Zeigefinger, wie: „Warum machst du denn nichts?“, sondern er zielt auf praktische Anschauung ab: „Geh doch mal rein und guck dich um!“

■ Dieser Beitrag ist im Magazin taz FUTURZWEI N°29 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es im taz Shop.