Kaminer im Kaukasus: Meine kaukasische Schwiegermutter
Einen Dokumentarfilm über den Kaukasus? Gerne! So machte ich mich auf den Weg in den beschaulichen "Wilden Osten" - als mir plötzlich ein dummer kleiner Krieg dazwischenkam.
WLADIMIR KAMINER, 41, ist deutscher Schriftsteller ("Militärmusik", "Russendisko") russischer Herkunft und lebt seit 1990 mit seiner Frau Olga und seinen beiden Kindern in Berlin. Neben seiner Arbeit für Zeitungen und das Radio organisierte er zusammen mit Yuriy Gurzhy regelmäßig die Tanzveranstaltung "Russendisko". Zuletzt erschien von ihm das Buch "Salve Papa", in dem er sich über den Lateinunterricht seiner Kinder wundert.
Genau genommen ging es um die Verwandtschaft meiner Frau im Nordkaukasus, sie lebt seit 1993 in der Steppenstraße, die sich tatsächlich in einer Steppe befindet, eine ganze Straße voll von Flüchtlingen, Russen, die aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny fliehen mussten, als die tschetschenischen Unabhängigkeitskriege begannen.
Die Augen der Öffentlichkeit waren damals auf die Rebellen, auf die Tschetschenen und die russische Armee gerichtet. Niemand nahm zur Kenntnis, dass damals eine halbe Million Russen aus ihren Häusern vertrieben wurde. Die Schwiegermutter wohnt seitdem in der Steppenstraße, auf einer ehemaligen Rinderfarm zusammen mit ihrem Bruder, seiner Frau und seinen zwei Töchtern, von denen die eine inzwischen verheiratet ist und eine Tochter hat.
Die Familie führt ein Geschäft - eine Kantine und einen Lebensmittelladen an der Ausfahrt der Föderationsstraße M 29 Rostow-Baku, auch als "Schnellstraße Kaukasus" bekannt. In der Kantine essen hauptsächlich Einheimische, regionale Arbeitskräfte. Für 1 Euro kann man dort schon zu Mittag speisen. In ihrem früheren Leben war meine Schwiegermutter Geologin und ihr Bruder ein Bauingenieur. Auch alle ihre Nachbarn, ebenfalls Flüchtlinge aus Grosny, von den einheimischen Russen "Tschetschenen" genannt, mussten das Leben auf dem neuen Territorium neu beginnen.
Der Nachbar von links, Juri Wladimirowitsch, von solider Statur und mit einem langem gepflegten Schnurrbart, war in Tschetschenien Direktor einer Musikschule, er unterrichtete das Bajanspielen. Sein Vater hatte im Orchester der Roten Armee Trompete gespielt, sein Großvater war Trompeter in der Armee des Zaren gewesen. Juri Wladimirowitsch gehörte einer Musiker-Dynastie an. Als er gerade sechs Jahre alt war, brachte sein Vater, der Trompetenspieler, ihn in eine Musikschule, er zeigte auf die vielen Bilder von Musikinstrumenten, die dort an den Wänden hingen, und befahl seinem Sohn, eins auszuwählen. Juri Wladimirowitsch wählte damals die Geige, weil sie das kleinste und niedlichste Instrument zu sein schien.
Später stieg er auf das Bajan um, ein chromatisches Akkordeon. Noch später ließ er sich einen Schnurrbart wachsen, wurde Direktor einer Musikschule und achtete bei den Prüfungen darauf, dass die tschetschenische Jugend ihr Bajan oder Akkordeon richtig umschnallte und nicht verkehrt herum, mit den Bässen nach unten.
Doch die Musikschule bestimmte sein Leben nur äußerlich, Musik ließ Juri Wladimirowitsch kalt. Seine wahre Leidenschaft galt den Bienen. Er besaß schon immer ein paar Bienenstöcke, so wie die anderen Jungs sich Tauben hielten. Auf dem neuen Territorium in der Steppe, wo es keine Musikschulen gibt, wurde er zu einem hauptberuflichen Imker, sein Traum, anstatt Musik Honig zu machen, wurde aus der Not wahr.
Monatelang zieht er mit seinen Bienen von einem Feld zum nächsten, durch die Berge und Steppen des Kaukasus, die mit blütenreichen Bäumen, Sträuchern und Gräsern übersät sind. Nur er weiß, wo wann was wächst, und er geht immer dorthin, wo die Bienen glücklich sind.
Der Nachbar von rechts, Gleb Iwanowitsch, war in seinem früheren Leben Baustellenleiter. Mit dem Alter zog es ihn in die Kunst, er hatte plötzlich sein Talent für die Malerei entdeckt und verkaufte selbst gemalte Bilder auf dem Markt. Am besten gehen Naturansichten - Berge, Landstraßen, Bushaltestellen. Oft kopiert das Bild ziemlich genau den Blick aus dem Fenster. Die Menschen der Region kaufen sich Kopien von Bergen, Landstraßen und Bushaltestellen, die sie im Original haben, hängen sie an die Wände, und wenn sie Besuch bekommen, zeigt der Besuch mit dem Finger auf das Bild und sagt: "Ach! Das ist doch …?" Und der Gastgeber nickt.
Seit Jahren aber arbeitet Gleb Iwanowitsch an einem Bild, das ein urmenschliches Flüchtlingsdrama thematisiert: "Adam und Eva mit Kindern halbnackt unter dem Baum nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies". Er hat es bis jetzt noch nicht dem breiten Publikum gezeigt.
Im Kaukasus ließ mein Plan, für Arte einen Film mit dem Arbeitstitel "Meine kaukasische Schwiegermutter" zu drehen, niemanden kalt. Der Bruder der Schwiegermutter rieb sich die Hände und bat mich, einen Brief an die Administration des Bezirks zu verfassen, mit der Aufforderung, die Berge von Müll aus der Sackgasse hinter der Kantine zu beseitigen, sowie die wegen Unwetter umgefallene Tafel mit dem Namen der nächsten Stadt wieder aufzurichten, die Haltestelle für die Sammeltaxi auszuschildern und endlich die Ausfahrt zu asphaltieren, um dieses gute Stück Kaukasus vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht zu blamieren.
Natürlich musste der Brief auf einem offiziellen Formular mit deutschem Stempel und aktuellem Datum verfasst werden, damit die Administration ihm Glauben schenkte. Der Onkel versprach sich viel von dem Film. Alle anderen erwarteten ebenfalls die Dreharbeiten als eine große Attraktion. Die Russen vergöttern sowieso das Fernsehen, obwohl sie wie alle anderen Völker gerne über die Deppen in der Glotze schimpfen. Aber einmal im Fernsehen aufzutreten ist, wie im Himmel zu landen. Die Mitarbeiter der Kantine ließen sich neue Uniformen anpassen, der Maler Gleb Iwanowitsch ließ sich extra zu dem Termin neue Zähne machen, und der Bienenkönig Juri Wladimirowitsch kehrte einen Monat früher als geplant von den saftigen Wiesen Inguschetiens zurück, nur um das Filmteam nicht zu verpassen. Zwei Kühe, die einzigen Kühe in der Siedlung, wurden gründlich gewaschen und gekämmt.
Die Deutschen bereiteten sich auch auf die Reise vor, sie machten sich Sorgen und überschütteten mich mit Fragen. Ob die Menschen im Kaukasus freundlich seien? Ob es dort einen Geldautomaten gebe? Ob wir eine Drehgenehmigung von der Administration bräuchten? Ob das Hotel eine Lüftungsanlage habe? Und was passiere, wenn die Kamera nicht durch den Zoll käme? Die Angst mehrte sich wie ein mehrköpfiger Drache, kaum schlug man einen Kopf ab, wuchsen sofort an seiner Stelle zwei neue. Die jahrzehntelange Verteufelung des Ostens im Westen tat ihr Übriges.
Das gefährliche Wort Kaukasus, das man mit bärtigen Rebellen und unterdrückten Frauen verband, ließ das Team schon vorher zittern. Der Kameramann surfte im Internet und fand heraus, dass der Flughafen von Mineralny Wody der unsicherste Flughafen Europas sei, die dortige Stromversorgung die unsicherste Versorgung und der gesamte Kaukasus so ziemlich der unsicherste Kaukasus sei, den es in diesem Teil des Planeten gebe.
Sie quälten mich mit ihren Ängsten und Fragen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Frauen mit Männerängsten besser umgehen können. Ich bat meine Frau, die Fragen der deutschen Filmkollegen zu beantworten. Ja, schrieb meine Frau nach Köln, die Bevölkerung im Kaukasus ist total unfreundlich, sie hauen jedem, statt ihn freundlich zu begrüßen, gleich aufs Maul. Die Geldautomaten stehen zwar an jeder Ecke, zeigen aber immer nur "Fuck off" an, wenn man seine Karte reinsteckt. Die Kamera ist eigentlich schon so gut wie weg, der Kameramann auch, und die Drehgenehmigung kann man im Kaukasus nur mit Blut zahlen.
So unterhielten wir uns und hatten dabei unseren Spaß. August kam, meine Frau und ich flogen als Erste von Berlin über Moskau nach Mineralny Wody. Das deutsche Team musste drei Tage später von Köln fliegen.
Im Kaukasus angekommen, wurden wir feierlich empfangen. Wir probierten die Weine, verteilten die Geschenke, besichtigten die Kantine und begrüßten die gestriegelten Kühe. Unser Film war startklar. Im Fernsehen liefen die Olympischen Spiele und die humanitäre Katastrophe in Südossetien auf allen Kanälen.
Einen Tag nach der Eröffnung der Spiele bombardierte Georgien Südossetien, die Ossetier schlugen zurück, die russischen Friedenstruppen begannen ihre Operation "Erzwingung des Friedens". Im Fernsehen sah man zerschossene Häuser und Zivilisten auf der Flucht.
"Ist alles in Ordnung bei euch? Hier sieht man nur Schlimmes vom Kaukasus", fragte mich der Leiter des deutschen Teams per SMS. Alles ruhig, antwortete ich. Der Konflikt ist doch 500 Kilometer weit weg auf der anderen Seite der Berge. Es gibt hier gar keine Wege, die dorthin führen.
Also absolut keine Gefahr, versuchte ich die deutschen Kollegen zu beruhigen. Es war vergeblich, sie kamen nicht.
Uns blieb nichts anderes übrig, als der Steppenstraße die traurige Nachricht zu übermitteln, dass es den Film nicht geben werde wegen des Krieges im Kaukasus. Hinter jeder schlechten Nachricht versteckt sich eine gute, sagte der Onkel - ein unbeugsamer Optimist.
Der Müll würde noch immer in der Sackgasse liegen, die Namenstafel schräg stehen, Gleb Iwanowitsch ohne Zähne und die Kühe ungestriegelt herumlaufen, wenn es diesen Film gar nicht gegeben hätte.
Mit der bloßen Ankündigung der Dreharbeiten sind wir zwar nicht im Fernsehen gelandet, aber uns ist damit bereits vieles gelungen. Vor allem ist unser Leben besser und irgendwie lustiger geworden. Wir tranken, sangen, tanzten und feierten so, wie wir es in dem Film gemacht hätten, nur ohne Kamera.
Nach drei Tagen war der Konflikt in Südossetien zu Ende. Der Chef der Kölner Produktionsfirma rief uns im Kaukasus an, der Sender machte ihm Druck, sie fragten: Wann kommt nun der Film? Aber wir hatten keine Zeit mehr und ich keine Lust, denn der Kaukasus ist mit seiner übertriebenen Gastfreundschaft, dem Wein, der Musik und dem Gesang auf Dauer wirklich gefährlich.
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