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Archiv-Artikel

KULTURHAUPTSTADT: ESSEN WIRD FÜR DAS ERREICHTE BELOHNT Görlitz musste scheitern

Es war eine knappe Entscheidung. Essen wird – neben dem ungarischen Pécs – europäische Kulturhauptstadt 2010. Görlitz und seine polnische Schwesterstadt Zgorzelec, die zweite Bewerbung, über die die Jury der EU-Kommission zu entscheiden hatte, lagen knapp dahinter. Aber ist eine knappe Entscheidung auch eine richtige?

Als beide Bewerber am 15. März zu ihrer Schlusspräsentation in Brüssel antanzen mussten, lobten die sieben Juroren nicht nur die Projekte, mit denen sich Essen und Görlitz den kulturellen Herausforderungen der Zukunft stellen wollten. Sie legten auch die Finger in die Wunden. Warum braucht Essen überhaupt den Titel einer Kulturhauptstadt, lautete die eine Frage. Die an Görlitz hieß: Wie kommt man dort hin?

Besser hätte man die Ausgangslage nicht formulieren können: Hier der Goliath Essen, der stellvertretend für das ganze Ruhrgebiet angetreten war. Der David war die östlichste Stadt Deutschlands, in der nicht einmal ein Intercity hält. Spätestens da war klar, dass das Thema der Görlitzer Bewerbung um Längen vor dem Essener liegen musste, um den Nachteil in der Infrastruktur auszugleichen.

Das Pfund, mit dem Görlitz wuchern konnte, war das Zusammenwachsen zweier Städte an der Schnittstelle zwischen „altem“ und „neuem“ Europa. Dass dieses Pfund vor allem die Görlitzer und nicht so sehr die Zgorzelecer bewegte, hatte weder die deutsche Jury im vergangenen Jahr noch die Brüsseler Jury moniert. Zu Zukunftsthemen gehören eben auch Widersprüche. Wie faszinierend das auch für die Brüsseler Jury war, zeigt doch auch das knappe Ergebnis.

Und es zeigt, dass das Thema „Wandel einer Industrie- zu einer Kulturlandschaft“ bei weitem nicht so überzeugte wie die Infrastruktur eines Ballungsraums mit fünf Millionen Menschen. So gesehen ist die Entscheidung für Essen kein Wechsel auf die Zukunft, wie es in Görlitz der Fall gewesen wäre, sondern die Belohnung für eine Region, die sich ihrem Thema schon seit den Siebzigerjahren verschrieben hatte – und dabei beträchtliche Erfolge vorzuweisen hat. UWE RADA