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KOMMENTARELeipziger Montage

■ Noch ist unklar, wie gefährlich die neuen Demonstrationen der Regierung Kohl werden

Nun beten die Leipziger wieder. Sie tun es verstärkt und — wie schon vor zwei Jahren — ausgerechnet montags. Wieder formieren sich die unterdrückten individuellen Seufzer zum gemeinsamen Stoßgebet. Wieder demonstrieren die Menschen anschließend auf der den Stadtkern umfassenden Ringstraße. Vorgestern abend waren es 60.000 — mehr als doppelt so viele wie am Montag zuvor. Die Glocken von Leipzig, die Helmut Kohl am 3. Oktober noch von Staats wegen bimmeln lassen wollte, könnten ihm von diesem Montag an noch zum zermürbenden Gedröhne werden. Zum zweiten Mal könnten die Leipziger Montage einer Regierung zur Gefahr werden.

Noch ist fraglich, ob sich die Leipziger Demonstrationen weiterentwickeln, von Montag zu Montag stärker werden. Die rührig-satten „Aufbauhelfer“ der IG Metall, die in bestem rheinischen Dialekt dazu aufrufen, „die Tradition der Leipziger Montagsdemo wiederaufzunehmen“, die Lautsprecherwagen und vorgedruckte Standardtransparente frei Haus liefern, machen den Protest eher schwach. Die inszenierte gewerkschaftliche Heerschau ist ein ebenso zahnloses wie importiertes westdeutsches Ritual. Die agilen Aufbaufunktionäre mischen die ausgeleierten Traditionen sogenannter Kampfdemonstrationen mit dem atomisierten Impetus des Herbstes 89. Sie verhindern Phantasie und Selbstreflexion. Schließlich müßten die Demonstranten wenigstens in Ansätzen erklären, auch für sich selbst, wieso sie eben noch „Helmut, Helmut!“ jubelten und dem Idol von vorhin nun die etwas vernutzte Parole „Helmut in den Tagebau“ hinterherwünschen. Die Leipziger sind nicht nur Helden — sie sind auch Opportunisten.

Ziel der Leipziger Demonstrationen war und ist die Wiederaufrichtung der Menschenwürde. Was die SED damit veranstaltete, ist bekannt. Inzwischen geht es um die Taten und Unterlassungen der gesamtdeutschen Regierung und der westdeutschen Besitzstandswahrer. Nach weniger als sechs Monaten haben sie die Hoffnungen der Ostdeutschen auf ein besseres Leben ruiniert, machten aus denen, die dem angefaulten deutschen Wörtchen „Volk“ eine neue sympathische Konnotation gegeben hatten, zunächst einen Haufen losgelassener Konsumenten, dann aber bürokratisch vereinzelte Leistungs- und Almosenempfänger. Daß es den Leipzigern an Geduld gefehlt habe, wird ihnen niemand vorwerfen, das kurze Glück der Westmark hatte sie betört. Die Regierungskoalition nutzte diese Situation schamlos aus. Neuwahlen könnten bald deshalb fällig werden, weil viele Wählerinnen und Wähler erkennen könnten, daß sie systematisch im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit gehalten wurden und selbst hineingetaumelt sind. „Coca Cola, Büchsenbier — Helmut Kohl, wir danken dir!“ Diese Parole kam nicht aus der Transparente-Druckerei der IGM, sie beschreibt die Spannung zwischen notwendiger Selbstkritik und einem neuerwachenden Widerstandsgeist der Leipziger. Die Mächtigen der SED wagten sich im Herbst 1989 nicht mehr in diese Stadt, und Helmut Kohl hat einen für Februar/März geplanten Besuch der „Heldenstadt“ auf die Zeit „nach Ostern“ verschoben. Während das offizielle Bonn verkniffen schweigt, reagierten andere sensibel: Karl Otto Pöhl nannte die Währungsunion gestern unter Hinweis auf die Leipziger Demonstration eine „Katastrophe“. Die Börse reagierte prompt — die D-Mark sackte ab. Der politische Erfolg der Leipziger Montage wird nicht mehr im Politbüro, sondern an der Frankfurter Devisenbörse notiert. Götz Aly

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