KOMMENTARE: Menschenopfer
■ Der Versuch, über die Feindbildschärfung Zeit zu gewinnen
Worauf warten die Kohls und die Rühes eigentlich noch, bevor sie zu zivilisierten Standards in der sogenannten Asyldebatte finden? Hunderte von Fremden werden in diesem Land bedroht, kleine Kinder fast verbrannt, Menschen vor deutschem Publikum auf offener Straße niedergestochen. Worauf warten sie also? Auf die Toten? Auf viele Tote?
Meine Lebensgefährtin ist Ausländerin, in Mailand aufgewachsen; einer meiner liebsten Freunde ist Ausländer, in Warschau zu Hause; das neugierige kleine Mädchen in der Wohnung gegenüber ist Ausländerin, Kind türkischer Eltern — für alle diese Menschen sind die Kohls und die Rühes zu einer realen Gefahr geworden. Was sollen wir den ausländischen Freunden und Kolleginnen jetzt noch sagen, denen wir immer versicherten, Deutschland sei mittlerweile ganz anders? Jetzt, nach dem Fall der 40 Jahre alten Feindbilder im deutschen Osten und im Westen, wird deutlich: Dieses Land kann ohne Feindbilder nicht leben. Und die Kohls und Rühes akzeptieren das. Sie exekutieren diese allseits gefürchtete deutsche Normalität. Das Kalkül ist alt und banal und tödlich: Das Feindbild wird sich schon auszahlen. Die deutsche Asyldiskussion dient der Schärfung des Feindbildes. Feindbilder, das sind Bilder von schädlichen Elementen, und sie sollen das Eigene kenntlich machen. Die feindlichen Elemente gehören also weggesperrt — das ist die banale Aussage des „Schutzzauns“, den nun auch Sozialdemokraten um die Fremden ziehen wollen, um die Fremden zu schützen, versteht sich. Die Aussage bleibt: schädliche Elemente. Dieses grausame Land kommt sich wieder weltläufig vor, Mitwirkender bei der Durchsetzung einer neuen Weltordnung. Die Idee klingt gut: die Abkehr vom Verbot zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, um die Menschenrechte global durchzusetzen. Fortschrittsfiktion auf globaler Ebene — Rückkehr zur banalen Barbarei im Inneren. Die Provinz muß sich verteidigen gegen die Welt. Die Toten, mit denen die Kohls und Rühes rechnen, werden so zum Menschenopfer — zum Opfer, mit dem die eigene Welt, die reiche Gesellschaft, das eine Volk, bewahrt werden soll. Antike Muster statt rationaler Politik; Beschwörungen statt der Einsicht in die neue Wirklichkeit des Einwanderungslandes. Das Menschenopfer dient dem Zeitgewinn. Ist doch Fremdenfeindlichkeit nichts anderes als die Vergrößerung der Distanz zu den anderen. Distanz heißt Zeitgewinn. Dafür werden weiter Menschen sterben. Und die Kohls und Rühes dann das widerliche Schauspiel vom Krokodil und seinen Tränen bieten. Dagegen werden einfache alltägliche, ganz praktische Gesten von Solidarität und Toleranz zu Überlebensübungen für die Zivilisation. Andreas Rostek
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