KOMMENTARE: Alle Macht den Gerichten
■ Durch das Revisionsurteil im Fall Theissen ist jedes Notlagenmodell obsolet
Memmingen ist überall. Das haben wir vor, während und nach den Verfahren gegen den ehemaligen Frauenarzt Horst Theissen und seine Patientinnen gesagt und geschrieben. Und wir haben auch jetzt leider recht behalten. Denn mit dem Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs gegen Theissen haben die Memminger Landrichter zwar einen — dezenten — Rüffel für eklatante Fehler, prinzipiell aber Rückendeckung vom großen Bruder erhalten. Doch nicht nur sie. Die „Hexenprozesse“ könnten sich wiederholen — überall dort, wo der § 218 regiert: Patientinnenkarteien von verdächtigen ÄrztInnen können auch weiterhin, zum Beispiel unter dem Vorwand der Steuerhinterziehung etwa, beschlagnahmt und dann als Belastungsmaterial für Abtreibungsprozesse benutzt werden — so lange, bis das Bundesverfassungsgericht deswegen nicht angerufen wird und entscheidet. Patientinnen dürfen auch weiterhin verurteilt und als Zeuginnen gegen den Arzt oder die Ärztin ihres Vertrauens vor Gericht gezwungen werden. Der Befangenheit verdächtige Richter dürfen sich auch weiterhin gegenseitig für unbefangen erklären und darüber befinden, ob eine Notlagenindikation rechtens war oder nicht.
Alle Macht den Gerichten. Diese unheilvolle Tendenz wird mit diesem BGH-Urteil weitergeschrieben. Paradoxerweise hat der BGH-Spruch aber auch eine positive Seite. Dadurch, daß er die Macht der Gerichte in der Abtreibungsfrage so bestärkt, dadurch, daß er einer Wiederholung der Memminger Verfahren kein massives Veto entgegenstellt, bringt er jedes Indikationenmodell in Verruf. Denn nun ist klar: Eine Reform des § 218 in Richtung einer „psychosozialen Notlage“ birgt immer die Gefahr einer richterlichen Überprüfung, die Gefahr von Anklage und Verurteilung. Ein solches Gesetz müßte seine Feuerprobe vor einem Memminger Landgericht bestehen. Die Vorstellungen gewisser CDU-Kreise, ein solches Indikationsmodell könne Abtreibung zwar generell als „Unrecht“ qualifizieren, im Fall eines „Schwangerschaftskonflikts“ der Frau aber die letzte Entscheidung lassen und sie und ihren Arzt oder ihre Ärztin vor skandalöser Verfolgung schützen, sind nicht mehr nur naiv. Sie sind jetzt eine glatte Lüge.
Insofern kann das Urteil die Bewegung der CDU-DissidentInnen beschleunigen und vergrößern, die hin zu einer Fristenlösung streben. Es kann aber nicht nur eine Fristenregelung mehrheitsfähig machen, sondern es wirft erneut Fragen zur drohenden Zwangsberatung auf: Wer darf mit welchen Mitteln deren Einhaltung überprüfen? Wer wird bestraft? Keine neuen Fragen — doch sie verlangen nach dem BGH-Urteil ehrliche Antworten. Ulrike Helwerth
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