KOMMENTARE: Alle in einem Boot
■ Jelzin erwägt Beitrittsgesuch zur Nato
Wer miterleben möchte, daß Triumph auch einen beängstigenden Beigeschmack haben kann, muß dieser Tage nach Brüssel schauen. Bei der Versammlung der Sieger im Ringen um die Weltherrschaft, den Teilnehmern der Außenministerkonferenz der Nato, geht derzeit die Angst um. Für das atlantische Bündnis ist ein Szenario eingetreten, mit dem niemand in der Runde der kalten Krieger je rechnete. Statt den Osten zu bekämpfen, sollen sie für die Gegner von einst nun Verantwortung übernehmen. Diese sind zur friedlichen Belagerung des Nato-Hauptquartiers übergegangen. Alle, alle wollen rein. Den Anfang machte der gute Mann aus Prag, der schon beim feierlichen KSZE-Gipfel in Paris, der offiziellen Beerdigung des Kalten Krieges, am liebsten zugestiegen wäre. Dann kamen Ungarn und Polen. Bulgaren und Rumänen wären auch nicht abgeneigt, die baltischen Staaten wollen sowieso alles, was irgendwie mit dem Westen zu tun hat — und nun auch noch Jelzin. Kaum hat er Gorbatschow abserviert, bereitet er der Nato auch schon Ungemach. Zu den bisherigen Avancen des Ostens hat die Nato offiziell eisern geschwiegen. Doch mit Vertröstungen wird das westliche Militärbündnis sich nicht mehr lange aus der Affäre ziehen können. Im Gegenteil, die Frage des Verbleibs der sowjetischen Atomwaffen muß geklärt werden, bevor sich Strukturen verfestigt haben, die womöglich schon bald eine neue Eigendynamik entwickeln. Noch könnte die Nato einen entscheidenden Einfluß nehmen, wenn sie bereit ist, sich tatsächlich zu engagieren.
Erst einmal verweist das Bündnis auf den ge-
stern erstmals zusammengetretenen Kooperationsrat. Doch Kooperation allein schafft im Osten kein ausreichendes Gefühl von Sicherheit. Das ist
auch das Problem im Rahmen der KSZE. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, zu der neben allen europäischen Staaten
auch die USA und Kanada gehören, ist als Zusammenschluß nach wie vor zu unverbindlich, als das sie, siehe Jugoslawien, dazu in der Lage wäre, militärische Auseinandersetzungen in Europa zu unterbinden, oder die in Europa existierenden Atomwaffen einem strikten Kontrollregiment zu unterwerfen. Doch noch überwiegt in der Nato die Meinung, man könne mit einem Kompromiß davonkommen.
Baker schlug in Brüssel vor, die Nato solle sich doch als Institution innerhalb der KSZE engagieren und dieser ihre Infrastruktur für friedenssichernde Maßnahmen zur Verfügung stellen. Ein bemerkenswerter Schwenk der US-Außenpolitik, die bisher in der KSZE vor allem eine unliebsame Konkurrenz zur Nato gesehen hat. Doch er kommt zu spät. Jetzt wollen die Staaten Osteuropas offensichtlich mehr. Sie wollen unter den Schutz der Nato. Damit steht die Nato an der Schwelle zu der sinnvollsten Aufgabe, die sie je hatte: Sie könnte von einer höchst fragwürdigen Militärmaschine zur größten Abrüstungsagentur werden, die es je gab. Voraussetzung ist, daß die kalten Krieger von einst die Zeichen der Zeit erkennen. Jürgen Gottschlich
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