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KOMMENTAREÜberlebensstrategien

■ Außenpolitische Prioritäten Rußlands und der neuen „Gemeinschaft“/ Abschied von den Visionen Gorbatschows/ Regionale statt globaler Politikzusammenhänge

Von der Gründung des patrimonial-absolutistischen Staates bis zu Gorbatschow war Außenpolitik in Rußland und später der UdSSR stets ein abgeschirmter, der öffentlichen Diskussion entzogener Raum gewesen. Hier diente eine Kaste den Interessen des Imperiums, die, von der Gesellschaft isoliert, materiell und psychologisch vollständig von der „Zentrale“ abhängig war. Erst der Schock des Afghanistan-Krieges und Eduard Schewardnadses mit offenem Visier ausgetragener Kampf gegen die Verfechter des „alten“ Großmachtdenkens führten dazu, daß der Hermetismus des außenpolitischen Entscheidungsprozesses sich auflöste. Mit dem Tod der Union endet auch deren gemeinsame Außenpolitik. Die Außenministerien der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, die, soweit in der UdSSR schon existent, schlichte Exekutivorgane der Zentrale bzw. des KGB gewesen waren, sind nun aufgerufen, die Interessen ihrer Republiken nach außen zu vertreten, lediglich ein Koordinierungsgremium wird viermal im Jahr versuchen, die Linien aufeinander abzustimmen.

Ein Teil der mit dem Kollaps wie mit der Neugründung verbundenen Probleme wird dadurch entschärft, daß Rußland Teil-Rechtsnachfolger der Union wird. Dies gilt nicht nur für die UNO, sondern faktisch auch für die Kontrolle über das Atomwaffenpotential, und zwar unabhängig davon, daß der Präsidentenrat der Gemeinschaft kollektiv über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden wird. Damit wird Rußland auch hauptsächlicher Verhandlungspartner der USA bzw. der Nato bei künftigen Abkommen über Rüstungskontrolle, einen „gemeinsamen strategischen Raum“ und die „Mini-SDI“ sein. Rußland wird auch die Linien weiterverfolgen können, die die Sowjetunion Gorbatschows mit der Neuorientierung ihrer Ostasien- Politik vorgezeichnet hat. Die Rückgabe der Kurilen, für die russische Regierung nicht mehr mit dem Odium des nationalen Verrats behaftet, wird Sibirien den japanischen Investitionen öffnen. Im Verhältnis zur VR China wird die russische wie die kasachische und kirgisische Regierung nicht das geringste tun, um die schwelenden Minderheitenkonflikte jenseits der Grenze zum Eklat zu bringen. Den chinesischen Führern gilt die Sowjetunion als negativer Lehrmeister, was aber die ökonomischen Beziehungen nicht beeinflussen wird. Von Nordkorea und Vietnam hatte bereits Gorbatschow die Hand abgezogen, so daß jetzt einer raschen Ausweitung des Handels nichts mehr im Wege steht. Die alte sowjetische Idee eines kollektiven Sicherheitssystems für Ostasien erweist sich heute, wo vom Moskauer Hegemonismus nichts mehr zu befürchten ist, als realistisches Projekt.

So chancenreich die russische Politik in dieser Weltregion an die sowjetische anschließen kann, so kompliziert wird diese Aufgabe im mittleren Osten sein. Schewardnadse war bemüht gewesen, sowohl zum Iran wie zu Saudi-Arabien Verbindungen zu knüpfen und — nach dem Rückzug aus Afghanistan — die Beziehungen zu Pakistan zu verbessern. Den neuen zentralasiatischen Republiken droht die Gefahr, zum Terrain rivalisierenden regionalen Vormachtstrebens zu werden. Schon jetzt scheint im Streit um den künftigen Schriftgebrauch (lateinische oder arabisch-persische Schriftzeichen) der künftige Gegensatz zwischen der islamischen und der „pantürkischen“ Orientierung im ehemals sowjetischen Zentralasien auf. Die wendekommunistischen Regierungen in den drei südlichen zentralasiatischen Republiken sind schwach, unfähig die religiösen und nationalen Konflikte auf ihren Territorien zu lösen. Die russische Politik wird vollauf beschäftigt sein, in Zentralasien wie im Transkaukasus den Ausbruch regionaler Kriege zu verhindern. Unter diesen Umständen ist es unwahrscheinlich, daß das politische und ökonomische Potential einer Kooperation, wie sie sich beispielsweise mit dem Projekt einer Schwarzmeer- Freihandelszone andeutete, ausgeschöpft werden kann. Das „Commonwealth“ droht hier zum Teil des Problems, nicht seiner Lösung zu werden.

Mit der Brester Erklärung schien es für einen Augenblick so, als ob die Ukraine, Weißrußland und Rußland sich gemeinsam auf den „Rückweg nach Europa“ machen würden. Aber die Auseinandersetzung um die knappen Kredite und Hilfsleistungen wird zeigen, wie zerbrechlich der proklamierte Freundschaftsbund ist. Kann die Ukraine der Versuchung widerstehen, für sich die zentrale Rolle in einem Ostmitteleuropa zu beanspruchen, das nicht mehr durch die Träume der demokratischen Dissidenten, sondern durch die Anmaßungen der „Geopolitik“ definiert ist? Rußland wiederum wird, unter ständigem Beteuern, eine Sonderrolle im Verhältnis zu Deutschland nicht anzustreben, auf genau dieses spezielle Verhältnis hinarbeiten und damit den europäischen Einigungsprozeß, der immer schon von der Angst vor einem neuen „Rapallo“, einem deutschen Sonderweg, überschattet war, schweren Belastungen aussetzen. Nur eine unzweideutige Linie der EG, Rußland nicht nur in Deklarationen, sondern in der Praxis als Teil Europas anzusehen, wird die im Verhältnis der „slawischen“ Republiken begründeten Gefahren bannen können.

Die Auflösung der Sowjetunion besiegelt das Zeitalter der „bipolaren“ Welt. Gorbatschows Vision einer neuen Weltordnung hatte stets daran festgehalten, daß die USA und die Sowjetunion die privilegierten Akteure einer Politik bleiben, die auf globale Befriedung und Kooperation ausgerichtet sein sollte. Ein Abschied von der „Supermachtrolle“ schien ihm bis zuletzt gleichbedeutend mit der Destabilisierung der internationalen Beziehungen. Auch der russischen Politik ist die Weltmachtorientierung nicht fremd. Aber sie wird Abschied nehmen vom weltweiten Konflikt-Management, von der Vorstellung, die Gewalt der Waffen durch die Kraft der Vision des „Neuen Denkens“ ersetzen zu können und damit zum Vorreiter bei der Lösung der „Menschheitsfragen“ werden zu können. Rußland und die von ihr geführte „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ werden sich mit weit weniger ehrgeizigen Zielen bescheiden. Eine Außenpolitik, die mehr in regionalen als in globalen Zusammenhängen agiert, die ihren Ehrgeiz dareinsetzt, zum schieren Überleben der zerbrechlichen neuen Vereinigung beizutragen, ist das Positivste, was wir erwarten dürfen. Christian Semler

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