KOMMENTARE: Furcht vor Brillanz
■ Bernhard Vogels Kür in Thüringen bringt dort große Erleichterung
Die Emigration jedenfalls ist uns erspart geblieben“ — vielstimmiger Seufzer der Erleichterung in Thüringen. Man hatte schon einen Notrucksack gepackt und sich für den Fall der Kür von Christine Lieberknecht zur Ministerpräsidentin an die Ausfallstraßen begeben. Daß die Chaotin im Kultusministerinnentalar auch nur in die engere Wahl gezogen wurde, galt zuerst als ein zwar giftiger, aber ausnahmsweise einmal guter Witz der sonst so drögen SPD-Opposition. Dann aber stellte sich heraus, daß man wirklich ernst machen wollte mit dieser Frau, die während ihrer kurzen Amtszeit unaufhörlich für Negativschlagzeilen gesorgt hatte, deren Abberufung fast ununterbrochen auf der Tagesordnung stand und die ebenso häufig Anlaß zu Koalitionskrächen gegeben hatte. Aber der Kelch Lieberknecht ging an Thüringen vorbei, und in der Erleichterung darüber erscheint jeder andere Kandidat, selbst der unscheinbarste noch, als Paradiesvogel. Und so hat Bernhard Vogel auch das Rennen gemacht.
Die Furcht vor zuviel Brillanz schwang wohl mit in Thüringens CDU, also vor Heiner Geißler und dem Thüringer Abgeordneten Dieter Althaus, einem der besten Köpfe der Fraktion; dem Justizminister Jensch, zwar ebenfalls ein Westimport, aber sehr geachtet wegen der unkonventionellen und erfolgreichen Art und Weise seiner Rechtsreform; und Parlamentspräsident Müller, der partout nicht in den Ring steigen wollte.
Daß es nun doch einer aus den Altbundesländern wird, regt die drübigen mehr auf als die hiesigen. Irgendwo ist hier halt immer noch jene Legende wirksam, daß alles, was von dort kommt, eine Klasse besser ist. Unvergeßlich für mich jene früher gar nicht seltenen Euphoriker hierzulande, die lieber teure Westsanella verschlangen als billige Ostbutter. Aus diesem Margarinesyndrom fliegt der Vogel Bernhard nun an die Macht. Ob sich diese Hoffnung freilich erfüllen wird, noch dazu mit jenem Vogel? So siegreich war er in seinem Rheinland-Pfalz nun auch wieder nicht. Aber als durch Meuchlerhand gefällter konnte er vom Dolchstoß zehren. Was herauskommt dabei, wer vermag es zu sagen?
Noch eine große Chance darf nicht unerwähnt bleiben. Die der Thüringer SPD-Opposition. Die sollte in Windeseile den anderen Vogel, den Jochen verpflichten. Auch er ist derzeit unterbeschäftigt und flöge sicherlich mit Freuden ein. Und da wir Thüringer einfältige Leute sind und schrecklich leicht durcheinanderzubringen, könnte es bei der nächsten Wahl schnell geschehen, daß der falsche Vogel in der Opposition für den richtigen auf dem Landesthron gehalten wird und mehr Stimmen bekommt als der Titelverteidiger. Henning Pawel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen