KOMMENTARE: Teure Einheit
■ Kohl erkennt das Offensichtliche — und macht weiter wie gehabt
Zwei Jahre brauchten BundesbankerInnen, UnternehmerInnen, GewerkschafterInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen, um Kohl das Offensichtliche nahezubringen: Die einheitlichen Lebensverhältnisse, die blühenden Landschaften in Ostdeutschland entstehen nicht einfach von selbst, wenn man nur die D-Mark in der DDR einführt oder den deutsch-deutschen Einigungsvertrag unterzeichnet. Mit der Einheit haben die Probleme schließlich erst angefangen. Durch das zweijährige Nichtstun der Bundesregierung sind sie erheblich größer geworden — und damit ihre Lösung teurer. Ohne Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen, allein mit neuen Krediten, läßt sich der Bundeshaushalt nicht mehr finanzieren. Diese nicht neue Erkenntnis führt bei Kohl und Konsorten traurigerweise nicht dazu, die ausgetretenen Wege bisheriger Politikvermeidung zu verlassen. Ausgerechnet in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und (in der Folge) Armut für einen größer werdenden Teil der Bevölkerung will Kohl das bundesdeutsche System der sozialen Sicherung durchlöchern. Mit dem Argument, die Deutschen hätten ohnehin zuviel Freizeit und würden sich zusätzliche Urlaubstage durch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verschaffen. Unternehmer hingegen müßten durch Steuererleichterungen einen Zusatzanreiz zum Investieren im Osten bekommen. Daß westdeutsche Unternehmer gerade nicht Kapitalmangel als Investitionshindernis angeben, sondern das ostdeutsche Eigentumsrecht — was interessiert das Kohl? Ebenso ignoriert der Kanzler den Zusammenhang zwischen kurzen Arbeitszeiten und hoher Produktivität. Ganz zu schweigen von den Verbindungen, die zwischen den Einkommen der Bevölkerungsmehrheit und der Inlandsnachfrage nach Konsumgütern bestehen.
Harte Schnitte bei staatlichen Sozialleistungen gab es in den 80er Jahren vor allem in Großbritannien und den USA. Ausgerechnet dort nun gilt Deutschland zunehmend als das Land, das für eine Zukunft in Reichtum am besten gerüstet ist: wegen seines Sozialstaatsprinzips und seines Bildungssystems. Beides verhindert bislang Ghettos aus Armut und Kriminalität, wie sie in den USA entstanden sind. Japans Regierung wiederum hält die langen Arbeitszeiten und relativ niedrigen Löhne im Lande inzwischen für ein Wachstumshindernis. Allerdings: der Sozialetat ist der größte im deutschen Bundeshaushalt. Ohne Kürzungen auch dort wird die Finanzkrise nicht aufzuheben sein. Die Zinslast für die Schulden des Bundes kostet ab nächstem Jahr bereits mehr Geld als der potentielle Sparposten Landesverteidigung. Im Sozialetat könnte man zunächst all jene Ausgaben zusammenstreichen, die versteckte Subventionen sind. So müßte eine Gesundheitsreform bei den Kosten für Medikamente und den Rechnungen der Ärzte ansetzen. Doch davor steht die Lobby. Donata Riedel
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