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KOMMENTARESchlucken statt reinen Wein einschenken

■ Zum Kompromiß der Bonner Koalition in Sachen Pflegeversicherung

Selten hat ein Verlierer ein so gutes Geschäft gemacht. Die FDP gibt nach, schluckt Blüms Pflegesozialversicherung — und gewinnt den Karenztag. Ordnungspolitisch ist das ein Triumph für die Liberalen. Wenn die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer für den ersten Krankheitstag selbst aufkommen müssen, ob nun in Form eines Urlaubs- oder eines unbezahlten Arbeitstages, dann vollzieht sich die Eigenbeteiligung an den Krankheitskosten endlich in großem Stil.

Dabei ist der Koalitionskompromiß in Sachen Pflege nicht deswegen fragwürdig, weil er die künftig Versicherten belastet. Aber der Tauschhandel illustriert prächtig, wie gern das politische Führungspersonal die Tragweite sozialer Entwicklung verdrängt und wieviel lieber man das Publikum betrügt, als ihm reinen Wein einzuschenken. Die Pflegeversicherung, so lautet die erste Wahrheit, ist ein überfälliges soziales Projekt, aber von begrenzter Reichweite. Sie wird diejenigen, die eigentlich eine ausreichende Altersrente beziehen, vor dem Abrutschen in die Sozialhilfe schützen, wenn sie zum Pflegefall werden. Zu Recht fragen die Kritiker des Blüm-Modells, ob angesichts der Alterspyramide nicht binnen kurzer Frist die gleiche Kostenexplosion entstehen wird wie bei den Krankenversicherungen. Das gewaltige Problem der weiblichen Altersarmut wird nur ganz am Rande tangiert. Es bleibt das gesellschaftliche Dilemma, daß immer mehr alte Menschen häuslicher Pflege bedürften, immer weniger Frauen dafür zur Verfügung stehen und der Pflegeberuf nichts gilt.

Die zweite Wahrheit: Natürlich müssen die Vorsorgekosten für Alter und Krankheit während des Arbeitslebens steigen. Die Sozialversicherungssysteme stammen aus dem letzten Jahrhundert, als die Jugend 14, das Arbeitsleben 50, und das Alter wenige Jahre dauerte. Ob und was der Alterspflegefall eigentlich noch mit dem Arbeitsverhältnis zu tun hat, lautet die berechtigte Anfrage der Arbeitgeberverbände. Die Antwort der Bundesregierung ist in jeder Hinsicht unehrlich. Formal und für das große Publikum folgt die Pflegeversicherung dem Modell von Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Arbeitnehmer und Arbeitgeber tragen je die Hälfte der Beiträge. Aber das Geld der Arbeitgeber wird per Karenztag umgehend rückerstattet. Es wäre nicht nur redlicher gewesen, einen Urlaubs- oder Feiertag zu streichen. Die Rechnung wäre überprüfbar: hier die Kosten, da die Leistung. Der Karenztag ist betrügerisch und besonders bitter deswegen, weil er die belasten wird, die die „kleine Atempause“ wirklich brauchen. Berufstätige Mütter und ältere Arbeitnehmer machen selten blau, sie sind aber oft vollkommen erschöpft. Tissy Bruns

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