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KOMMENTAREEin neues Trauma der Geschichte

■ Die Lager in Bosnien-Herzegowina fordern tiefgreifende Entscheidungen heraus

Angesichts der Bilder aus den Lagern in Bosnien-Herzegowina werden erneut die prinzipiellen Fragen dieses Jahrhunderts aufgeworfen. Die systematische Einkerkerung von Menschen in KZ-ähnlichen Lagern, die, was anzunehmen ist, dem Terror von völlig enthemmten und im rechtsfreien Raum agierenden Wachmannschaften ausgesetzt sind, schien nach den Erschütterungen des Massenmordes durch die Nazis und des Archipel Gulag in Europa überwunden. Daß europäische Mächte — wie Frankreich in den 50er Jahren in Algerien — zu ähnlichen Mitteln griffen, daß in der sogenannten Dritten Welt, vor allem in Afrika, China und Kambodscha, die Greueltaten von enthemmten Soldatesken weiterhin an der Tagesordnung waren und sind, läßt nur einen Schluß zu: die Lehren aus den Todeslagern Hitlers und Stalins schienen nur gezogen, solange die Diskussion über sie von den Kräftefeldern aktueller politischer Interessen ferngehalten werden konnte. Trotz aller Vorsätze, daß sich die schreckliche Geschichte niemals wiederholen darf, beginnt heute und jetzt in Bosnien-Herzegowina ein neues Auschwitz.

Wie hofften damals die Opfer der Nazis auf die Hilfe der lange Zeit noch ungläubigen Welt! Heute hoffen mindestens 130.000 Menschen — diese Zahl nennt das bosnisch-herzegowinische Verteidigungsministerium — auf ihre Befreiung. Alle Versuche, sie zu verwirklichen, sind dazu legitim. Die Forderung, diese Lager, und zwar alle, durch die UNO oder das Internationale Rote Kreuz inspizieren zu lassen, kann dabei nur der erste Schritt sein. Ihr muß Nachdruck verliehen werden. Der Aufschrei in der Weltöffentlichkeit und der daraus resultierende politische Druck auf die serbische Führung in Bosnien-Herzegowina haben immerhin Unrechtsbewußtsein in Belgrad erzeugt, ist doch der aktuelle Krieg von serbischer Seite mit der Angst vor einem Genozid an Serben begründet worden. Mit der Austreibung und Ermordung der muslimanisch-kroatischen Bevölkerung in ihrem Herrschaftsbereich haben sich die serbischen Führer Bosniens selbst als Kriminelle entlarvt. Der Hinweis, daß auch auf der anderen Seite Verbrechen geschehen sind, enthebt sie nicht der Verantwortung, Serbien einen historischen Bärendienst geleistet zu haben. Serbenführer Karadzic und seine Mafia gehören vor ein internationales Gericht.

Wenn angesichts dieses Dramas bei der UNO, in den USA, bei der Nato, in Bonn, Rom, London und Paris, in Wien und auch in Istanbul über eine militärische Intervention nachgedacht wird, sind die Argumente dafür nicht gleich von der Hand zu weisen. Nur mit dem größtmöglichen Nachdruck sind die Mörder in Schach zu halten. Bei der Frage jedoch, wie und mit welchen Mitteln was zu erreichen ist, scheiden sich nach wie vor die Geister.

Nicht zuletzt sind es US-amerikanische Militärs, die als Folge einer militärischen Intervention vor einer Ausweitung des Krieges auf dem Balkan warnen. Wenn die UNO-Truppen durch US-Truppen verstärkt einen Kampfauftrag erhalten sollten, wären bald mehr als 100.000 Soldaten involviert. Angesichts des bevorstehenden Winters in dem unwegsamen Gelände könnten diese Truppen doch nur einige Brückenköpfe halten — ob sie die Gefangenen befreien können, bleibt zweifelhaft. Noch schwerer wiegt das Argument, daß bei einer militärischen Intervention der Volksaufstand im albanisch besiedelten Kosovo nicht mehr aufzuhalten wäre. Angesichts der sich dort entwickelnden Kämpfe könnte Albanien nicht mehr beiseitestehen, eine Kettenreaktion wäre ausgelöst: die Türkei als Schutzmacht der Muslime des Balkans wäre endgültig auf den Plan gerufen, in Reaktion darauf auch Griechenland. Mazedonien, Bulgarien, selbst Rumänien und Ungarn könnten in den Strudel gerissen werden. Dafür will auch Bush nicht die Verantwortung übernehmen.

Das gerade in Deutschland geforderte Bombardement militärischer Anlagen der serbischen Armee könnte diese tatsächlich schwächen und den Vormarsch muslimanisch- kroatischer Verbände möglich machen. Das Risiko ist allerdings, sich damit den Denkmustern konkurrierender Nationalismen auszusetzen. Auf die Verantwortung der UNO, in diesem Falle die Austreibung und „ethnische Säuberungen“ durch die muslimanisch-kroatischen Seite gegenüber der serbischen Bevölkerung verhindern zu müssen, sei jetzt schon hingewiesen.

Vordergründig wird die Diskussion über die Intervention jedoch, wenn sie in das Kräftefeld politischer Tagesinteressen gerät. Weil die UNO in ihrer jetzigen Struktur und Ausstattung angesichts von mehr als einem Dutzend militärischer Missionen überfordert ist, konzentriert sich die Suche nach Lösungen auf die USA. Dort aber ist die Diskussion vor allem durch den Wahlkampf geprägt.

Es ist in diesem Kontext befremdlich, daß die Informationen über die Lager und Verbrechen, die der UNO schon seit Wochen vorlagen, erst jetzt dem Weltsicherheitsrat zugegangen sind. Die Strategie, die auch den EG-Beobachtern in den Kriegsgebieten aufgezwungen war, ihre Kenntnisse über die Verbrechen geheimzuhalten, muß Brüssel zum Vorwurf gemacht werden. Eine Intervention nur dann ins Spiel zu bringen, wenn sie opportun erscheint, ist angesichts der Opfer abgeschmackt.

Die Ohnmacht der serbischen Opposition, das Steuer in Serbien selbst herumzureißen und damit den Weg für echte Verhandlungen zu eröffnen, ist dieser Tage evident. Damit ist eine Hoffnung geschwunden, ohne massives Eingreifen von außen die Hauptkriegstreiber auszuschalten. Die humanitären Aktionen, Flüchtlinge aus dem Krisengebiet zu holen, dienen, so zynisch es klingen mag, letztendlich der serbischen Soldateska, ihr Kriegsziel, „ethnisch reine“ Gebiete zu schaffen, auch zu erreichen. Sie können deshalb nur flankierende Maßnahmen sein. Bei allen Risiken und bei aller Kritik an mitschwingenden politischen Kalkülen muß den Opfern aber geholfen werden, wenn es sein muß, auch mit Gewalt. Erich Rathfelder

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