KOMMENTARE: Ganz unten
■ Nach der Bundestagsdebatte wissen wir endlich, daß die Lage ernst ist
Die Lage ist ernst. Auf diesen kurzen Nenner, so meinte Björn Engholm, hätte Konrad Adenauer die langatmigen Ausführungen des gegenwärtigen Bundeskanzlers gebracht. Daß es im zweiten Jahr der deutschen Einheit nicht zum Besten steht, daß die Lage nicht nur ernst, sondern vielleicht schon düster ist, soweit herrscht Konsens beim Führungspersonal der Republik. Und nun? Und weiter? Was soll geschehen?
Offenbar nichts Besonderes. Die gestrige Bundestagsdebatte lieferte den Stoff für den Verdruß an Regierung und Opposition gleich en gros und in neuer Steigerung. Seit zum allgemeinen Erkenntnisstand gehört, daß die Bürger Ehrlichkeit erwarten, Handlungsfähigkeit, Klarheit und Mut, fehlen in keiner Politikerrede wohlfeile Bekenntnisse zu diesen Tugenden. Doch Kanzler und Minister, die ersten Reihen der Fraktionen merken nicht einmal, daß sie sich ständig selbst dementieren.
Voran der Kanzler. Helmut Kohl räumt endlich Fehler ein — um anzufügen, daß in den Jahren 1989/90 niemand die Situation angemessen beurteilt habe. So tritt hinter dem selbstkritischen flugs wieder der epochemachende Kanzler der Einheit hervor. Denn er kann nur noch von dieser Vergangenheit zehren. Konnte er sich im letzten Jahr noch in die Vision Europa retten, um die Niederungen der deutschen Integration zu meiden — in dieser Rede hatte nichts mehr Kontur. Der Parteivorsitzende der SPD wiederum verlangt nicht das erste Mal die Wahrheit über die Lage in Ostdeutschland, die er in dunklen Bildern zu beschreiben weiß — um gleich darauf einen langen Katalog politischer Wünsche anzufügen, von dem er selber nur zu gut weiß, wie unerfüllbar sie sind. Der Fraktionschef der Union predigt, daß gemeinsame Lösungen mit der Opposition nötig seien — um dann die SPD auf niedrigstem Niveau zu attackieren.
Das Schlimmste aber bleibt, daß trotz unendlich vieler Worte über das Epochale, das Neue, das Außerordentliche der Situation nach 1989 niemand über die alten Schatten springen will. Der Streit über die richtigen Schritte der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird vor allem in Gegensatzpaaren geführt: Rückgabe vor Entschädigung oder die Umkehrung des Prinzips, Staatsinterventionismus oder nicht, Sparen oder höhere Abgaben. Große Koalition in der Sache oder vielleicht in aller Form? Diese Spekulationen sind albern, weil in Bonn noch nicht einmal die Suche nach einem Konsens für die deutsche Integration ernsthaft begonnen hat, nicht in der Regierung und erst recht nicht mit der SPD.
Eine deprimierende Debatte, von der sich immerhin zwei Redner positiv abhoben. Zwar werden Hans-Ulrich Klose und Otto Graf Lambsdorff keine neue Koalition schmieden. Aber ihr klarer Ton nährt doch die Hoffnung, daß es von ganz weit unten nur noch aufwärts gehen kann. Tissy Bruns
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen